Dienstag, 7. Januar 2020
Die Überschätzung des Selbstseins
fremd worte, 10:18h
Die Fragen, wer von den beiden Schwestern jeweils spricht, warum überall Verschwinden um sich greift und was nach dem Ende kommt, werden kaum beantwortet. „Immer ist ihr vorgekommen, ihre Schwester sei wirklicher als sie: sie sähe deutlicher, spürte intensiver, bewohnte ganz anders als sie mit ihrem Körper die Welt.“
Kaum erfahren wir ihre Namen, höchstens den Namen der Abwesenden, Ungreifbaren. Der, die sich entzog, wurde ihr Name nachgerufen: "Mona". Der Ruf geht ins Leere. Diese Leere ist eigentlich der Schauplatz. „Vor dem Hintergrund dieser Leere liest sie ihre Bücher, vor dem Hintergrund dieser Leere lernt sie neu, sich zu bewegen, mit Menschen zu sprechen, sich Menschen (den Blicken der Menschen) zu entziehen, zu denken und zu hassen. Es gibt keinen besonderen Blick. Sie hat den leeren Raum gesehen.“
Ein Text, Schauplätze, Romanfiguren, Handlungsstränge, eine Sprache, vielleicht ein Anliegen, eine Aussage, eine Absicht. Alles, was zu einem Roman gehört. Aber so kommt man Stangl nicht bei. Ich halte "Roman" für eine Grenzbezeichnung für diesen Text, vielleicht für eine Tarnung. Hören wir uns ein:
„Sie will nicht wissen, wer mit den Schlüsseln klappert, sie selbst oder irgendwer, es interessiert sie nicht, wer in den Autos sitzt und hupt, wer aus den Fenstern herunterwinkt. All das ist ein fragiler Zustand.“
Eine Fremdheit wird hier sichtbar, eine Teilnahmslosigkeit, die den ganzen Text durchzieht, alle Streifzüge der drei Protagonisten durch die Stadt Wien, meist zu Fuß, meist planlos, durch winzige zufällige Ereignisse gesteuert, ein Vagabundieren, zuerst vom festen Wohnsitz aus, später durchs Umland oder durch Wohnungen von namenlosen Zufallsbekanntschaften. Dabei gehen verloren: unentwickelte Filme, Arbeitsaufträge, die Ehefrau, die Schwester, die Mutter, persönliche Zukunftsvorstellungen, ein geregelter Tagesablauf, ein Menschenleben. Für all das Aufgegebene steht der "Tanz" als Ergebnis: sozusagen ein existenzieller Tanz, Darstellung von Verlust, Befreiung und Selbstgewinn. Eigentlich Nichtdarstellung.
Für die Nichthandlung, die Handlung der anderen, die Scheinhandlung steht die wiederkehrende Donnerstagsdemonstration, dieses Aufbegehren der Zivilgesellschaft gegen die erste Rechtsregierung in Österreich im Jahre 2000. „Die Schamlosigkeit, mit der sie alle offenkundigen Fakten leugnen und an die Stelle der Wirklichkeit eine beliebige und im Lauf der Zeit auch immer wieder veränderte und der vorherigen Version sogar widersprechende ihnen gerade genehme erfundene Wirklichkeit setzen“ - so wäre die Wirklichkeitsdarstellung der neuen Regierung. "Gnome" nennt die Schwester die Erscheinungen, die fortan ihr Land anführen wollen. Aber auch diese Abscheu motiviert keine Handlung, auch die Teilnahme an der sich wie von selbst fortpflanzenden Versammlung Namenloser ist ein halb willenloses Treiben durch Gassen der Stadt. „Jeden Donnerstag und dazu noch jeden Samstag wird für sie, und ohne ihr zu helfen, gegen die Wirklichkeit demonstriert“. Es ist eine Masse, die keine Masse ist (gemessen an Wählerstimmen), eine Handlung, die keine Handlung ist. Mag sein, dass die Handlung der anderen als Ersatz für eigene Verantwortung eine Zeiterscheinung ist, die vielleicht mit den laufenden Kommentierungen durch die "sozialen Medien" immer stärker hervortritt. Aber die Nichthandlung in "Regeln des Tanzes" hat einen anderen Kontext.
Gerade die beiden Schwestern, die jungen Frauen, die in einer Wohnung sozusagen gegenläufig zusammenwohnen, die einander nah sind, ohne einander zu kennen (wie sie sagen), deren Gesichter am Foto zu verwechseln sind - „eigentlich sieht er nur Schwestern, kein einzelnes Mädchen, für ihn sind sie immer nur gemeinsam vorhanden“, werden zur Vorstellung eines Persontausches: „sozusagen in ihre Schwester verwandelt oder in diejenige, die ihre Schwester gewesen ist“.
„Dir scheint, du könntest Platz tauschen, mit ihr, mit irgendeiner (du willst nichts mehr für dich), jemand könnte an deiner Stelle handeln oder du an der Stelle jemandes anderen.“ Man soll das aber nicht als Liebesmystik missverstehen, als jene Erfahrung, beinah oder wirklich aus Liebessehnsucht die Person des anderen "aufzusuchen" und zu werden. „Denken Sie an eine rasende, verzweifelte Verliebtheit, aber eine Verliebtheit in niemanden.“
Ich sehe im "Persontausch" das zweite Grundmotiv des Textes, so wie die "Nichthandlung". Der Persontausch erscheint wie ein Ausweg aus dem Nichthandlungs-Dilemma. Die aus ihrer gefügten Existenz Davontaumelnden gelangen in Sackgassen und springen in eine andere Existenz. Eine der Schwestern irrt durch Naturgelände und nähert sich dem suizidierten Vater, bis sie selbst Suizid begeht. Die andere Schwester gewinnt Tatkraft durch die Scheinhandlung der Demonstrationen und nähert sich der Suizidierten. Der Mann findet zehn Jahre später die Bilder der Schwestern und nähert sich beiden, obwohl nur mehr eine da ist. Und schließlich verbindet der Tanz die beiden: „Der Körper, der sich in Form und in Wissen verwandelt, kann gleichzeitig der deine und der dieser Frau sein, nicht unbedingt ein Männerkörper, nicht unbedingt ein Frauenkörper, nicht einmal unbedingt ein Menschenkörper: ein Körper, der Wissen, ein Wissen, das Körper ist. Bis die Zeit aufhört."
So ist noch ein drittes Grundmotiv aufgetreten, das ich "Zeitbrücke" nennen will:
„Es ist eine Auflösung, dieses Gewebe, das man Zeit nennt, kann sich einfach auflösen, du musst nur den richtigen Blick finden.“ Denn zwischen der Schwesterngeschichte mit den Demonstrationen und der Geschichte des Mannes, der die Bilder findet, liegen zehn Jahre. Durch die Bilder blickt er in die Vergangenheit bis zu den Schwestern und weiter bis zum damals noch lebenden Vater, der ihre Kinderbilder gemacht hat. Er „glitt bewegungslos die Jahrzehnte zurück und zugleich nach vor, hin zu seinem Tod, an einem Tag, an den er sich schon heut erinnert“. „Für einen Moment scheint ihm, er wäre in ein Foto – in ein ihm noch unbekanntes Foto, das Foto aller Fotos – hineingestiegen, eine andere Existenzform hätte von ihm Besitz ergriffen, er würde in einer ihm unbekannten Zeit leben.“ Tatsächlich geht die Zeitreise in beide Richtungen, denn es kommt zur Begegnung mit der wirklichen Schwester, letztlich im Tanz. „Man kann tanzen lernen, vielleicht kann man also auch lernen, seinen Körper auszutauschen, die Vergangenheit zu löschen."
Die drei Grundmotive Nichthandlung, Persontausch und Zeitbrücke laufen in ein Finale, das sie verbindet. Das ist der eigentliche Text. Somit sehe ich den Roman als eine "ontologische Erzählung". Die Fusion ist der existenzielle Tanz.
„Hat er sich einmal gewünscht, fragt ihre Stimme, einen ganz bestimmten einzelnen Moment seines Lebens zurückzuholen, er gibt keine Antwort (sie versteht es als Nein), es muss ein Moment sein, sagt ihre Stimme, in dem es nicht nur um ihn, nicht um sie, um kein Ich oder Du geht, sondern in dem plötzlich eine Verbindung da ist.“
Was für eine Verbindung, nachdem kaum Personen, nur personlose Körper da sind ohne bestimmte Zeit?
Diese Art von Verbindung macht der Tanz. „Die ganze Welt schlüpft in ihr Bewusstsein, ihr Bewusstsein schlüpft in ihren Körper, ihr Körper schlüpft in die Figur. Ihr Bewusstsein, ihr Körper, die Linien auf dem Boden und in der Luft vor ihr fließen ineinander und heben die Wirklichkeit aus den Angeln.“
Der Tanz, der "existenzielle Tanz" ist eine All-Einheit, wie sie aus der Mystik bekannt ist, vielleicht am ehesten nachvollziehbar in Form der Derwischtänze. Von Musik sind Spuren, von Gemeinschaft und Liturgie ebenfalls - aber von Gebet? Wie steht es mit dem Bezug zum Schöpfer des Alls?
Ich kann gerade in der ontologischen Struktur dieses Textes einen Schöpfungsbezug erkennen, aber sozusagen anonym: „Er wollte die Schatten daran hindern, sich zu bewegen, das Licht daran hindern, den Schatten aufzuessen, die Gedanken, die seinen und die seiner Lieben, sollten sich nicht von ihrem Ursprung entfernen.“ Der Text, der Erzähler, die Protagonisten haben ihren Finger am Werden der Welt, dort, wo Handlungen, Personen, Subjektives in die Welt treten könnte - aber halten es zurück. Es ist sozusagen ein Parallelroman, der den Vollzug der Schöpfung anhält und den Raum zwischen den Dingen und dem Seinsgrund betrachtet und: Nichts erblickt, Leere. Leeren Raum. Grenzenlos.
Ist der Text religiös?
Ich finde zwei gegenüberliegende Antworten.
„Er glaubt an die Rückkehr und hat vielleicht immer an die Rückkehr und nichts als die Rückkehr geglaubt. Die Welt ist eine endlose Fläche, in der Texte parallel zueinander liegen, einander da und dort berühren, Licht essen, als wären sie Schatten, Schatten essen, als wären sie Licht, Lebenstexte mit Anfang und Ende, man kann zum Anfang zurückkehren, das Ende kennt man." Das lässt an Reinkarnation denken, buddhistische oder hinduistische Vorstellungen von kosmischen Zyklen mit und ohne persönliches Gottesbild.
„Sie steckt in der sonntäglichen Wohnung wie in einem kratzenden Pullover, sie steckt in jeder Sekunde dieses Sonntags wie in einem kratzenden Pullover, jemand beobachtet sie. Tu nicht so, als würdest du lesen, tu nicht so, als würdest du Musik hören. Du wartest nur und willst nicht wissen worauf.“ Die Schwester, im Kontext ihrer Schwester, ihres verstorbenen Vaters und womöglich des in der Zukunft begegnenden Mannes, der ihre Fotos gefunden haben wird, fühlt sich beobachtet und meint, etwas Kommendes zu spüren. Das könnte auf eine christliche Kosmologie deuten, ein personales Gegenüber in einer ihrer Vollendung entgegenstrebenden Schöpfung. Aber wohlgemerkt, und diesen Gedanken möchte ich gerne zum Schluss stehen lassen: in der Fläche liegen die Texte (die Bedeutungen) parallel!
Kaum erfahren wir ihre Namen, höchstens den Namen der Abwesenden, Ungreifbaren. Der, die sich entzog, wurde ihr Name nachgerufen: "Mona". Der Ruf geht ins Leere. Diese Leere ist eigentlich der Schauplatz. „Vor dem Hintergrund dieser Leere liest sie ihre Bücher, vor dem Hintergrund dieser Leere lernt sie neu, sich zu bewegen, mit Menschen zu sprechen, sich Menschen (den Blicken der Menschen) zu entziehen, zu denken und zu hassen. Es gibt keinen besonderen Blick. Sie hat den leeren Raum gesehen.“
Ein Text, Schauplätze, Romanfiguren, Handlungsstränge, eine Sprache, vielleicht ein Anliegen, eine Aussage, eine Absicht. Alles, was zu einem Roman gehört. Aber so kommt man Stangl nicht bei. Ich halte "Roman" für eine Grenzbezeichnung für diesen Text, vielleicht für eine Tarnung. Hören wir uns ein:
„Sie will nicht wissen, wer mit den Schlüsseln klappert, sie selbst oder irgendwer, es interessiert sie nicht, wer in den Autos sitzt und hupt, wer aus den Fenstern herunterwinkt. All das ist ein fragiler Zustand.“
Eine Fremdheit wird hier sichtbar, eine Teilnahmslosigkeit, die den ganzen Text durchzieht, alle Streifzüge der drei Protagonisten durch die Stadt Wien, meist zu Fuß, meist planlos, durch winzige zufällige Ereignisse gesteuert, ein Vagabundieren, zuerst vom festen Wohnsitz aus, später durchs Umland oder durch Wohnungen von namenlosen Zufallsbekanntschaften. Dabei gehen verloren: unentwickelte Filme, Arbeitsaufträge, die Ehefrau, die Schwester, die Mutter, persönliche Zukunftsvorstellungen, ein geregelter Tagesablauf, ein Menschenleben. Für all das Aufgegebene steht der "Tanz" als Ergebnis: sozusagen ein existenzieller Tanz, Darstellung von Verlust, Befreiung und Selbstgewinn. Eigentlich Nichtdarstellung.
Für die Nichthandlung, die Handlung der anderen, die Scheinhandlung steht die wiederkehrende Donnerstagsdemonstration, dieses Aufbegehren der Zivilgesellschaft gegen die erste Rechtsregierung in Österreich im Jahre 2000. „Die Schamlosigkeit, mit der sie alle offenkundigen Fakten leugnen und an die Stelle der Wirklichkeit eine beliebige und im Lauf der Zeit auch immer wieder veränderte und der vorherigen Version sogar widersprechende ihnen gerade genehme erfundene Wirklichkeit setzen“ - so wäre die Wirklichkeitsdarstellung der neuen Regierung. "Gnome" nennt die Schwester die Erscheinungen, die fortan ihr Land anführen wollen. Aber auch diese Abscheu motiviert keine Handlung, auch die Teilnahme an der sich wie von selbst fortpflanzenden Versammlung Namenloser ist ein halb willenloses Treiben durch Gassen der Stadt. „Jeden Donnerstag und dazu noch jeden Samstag wird für sie, und ohne ihr zu helfen, gegen die Wirklichkeit demonstriert“. Es ist eine Masse, die keine Masse ist (gemessen an Wählerstimmen), eine Handlung, die keine Handlung ist. Mag sein, dass die Handlung der anderen als Ersatz für eigene Verantwortung eine Zeiterscheinung ist, die vielleicht mit den laufenden Kommentierungen durch die "sozialen Medien" immer stärker hervortritt. Aber die Nichthandlung in "Regeln des Tanzes" hat einen anderen Kontext.
Gerade die beiden Schwestern, die jungen Frauen, die in einer Wohnung sozusagen gegenläufig zusammenwohnen, die einander nah sind, ohne einander zu kennen (wie sie sagen), deren Gesichter am Foto zu verwechseln sind - „eigentlich sieht er nur Schwestern, kein einzelnes Mädchen, für ihn sind sie immer nur gemeinsam vorhanden“, werden zur Vorstellung eines Persontausches: „sozusagen in ihre Schwester verwandelt oder in diejenige, die ihre Schwester gewesen ist“.
„Dir scheint, du könntest Platz tauschen, mit ihr, mit irgendeiner (du willst nichts mehr für dich), jemand könnte an deiner Stelle handeln oder du an der Stelle jemandes anderen.“ Man soll das aber nicht als Liebesmystik missverstehen, als jene Erfahrung, beinah oder wirklich aus Liebessehnsucht die Person des anderen "aufzusuchen" und zu werden. „Denken Sie an eine rasende, verzweifelte Verliebtheit, aber eine Verliebtheit in niemanden.“
Ich sehe im "Persontausch" das zweite Grundmotiv des Textes, so wie die "Nichthandlung". Der Persontausch erscheint wie ein Ausweg aus dem Nichthandlungs-Dilemma. Die aus ihrer gefügten Existenz Davontaumelnden gelangen in Sackgassen und springen in eine andere Existenz. Eine der Schwestern irrt durch Naturgelände und nähert sich dem suizidierten Vater, bis sie selbst Suizid begeht. Die andere Schwester gewinnt Tatkraft durch die Scheinhandlung der Demonstrationen und nähert sich der Suizidierten. Der Mann findet zehn Jahre später die Bilder der Schwestern und nähert sich beiden, obwohl nur mehr eine da ist. Und schließlich verbindet der Tanz die beiden: „Der Körper, der sich in Form und in Wissen verwandelt, kann gleichzeitig der deine und der dieser Frau sein, nicht unbedingt ein Männerkörper, nicht unbedingt ein Frauenkörper, nicht einmal unbedingt ein Menschenkörper: ein Körper, der Wissen, ein Wissen, das Körper ist. Bis die Zeit aufhört."
So ist noch ein drittes Grundmotiv aufgetreten, das ich "Zeitbrücke" nennen will:
„Es ist eine Auflösung, dieses Gewebe, das man Zeit nennt, kann sich einfach auflösen, du musst nur den richtigen Blick finden.“ Denn zwischen der Schwesterngeschichte mit den Demonstrationen und der Geschichte des Mannes, der die Bilder findet, liegen zehn Jahre. Durch die Bilder blickt er in die Vergangenheit bis zu den Schwestern und weiter bis zum damals noch lebenden Vater, der ihre Kinderbilder gemacht hat. Er „glitt bewegungslos die Jahrzehnte zurück und zugleich nach vor, hin zu seinem Tod, an einem Tag, an den er sich schon heut erinnert“. „Für einen Moment scheint ihm, er wäre in ein Foto – in ein ihm noch unbekanntes Foto, das Foto aller Fotos – hineingestiegen, eine andere Existenzform hätte von ihm Besitz ergriffen, er würde in einer ihm unbekannten Zeit leben.“ Tatsächlich geht die Zeitreise in beide Richtungen, denn es kommt zur Begegnung mit der wirklichen Schwester, letztlich im Tanz. „Man kann tanzen lernen, vielleicht kann man also auch lernen, seinen Körper auszutauschen, die Vergangenheit zu löschen."
Die drei Grundmotive Nichthandlung, Persontausch und Zeitbrücke laufen in ein Finale, das sie verbindet. Das ist der eigentliche Text. Somit sehe ich den Roman als eine "ontologische Erzählung". Die Fusion ist der existenzielle Tanz.
„Hat er sich einmal gewünscht, fragt ihre Stimme, einen ganz bestimmten einzelnen Moment seines Lebens zurückzuholen, er gibt keine Antwort (sie versteht es als Nein), es muss ein Moment sein, sagt ihre Stimme, in dem es nicht nur um ihn, nicht um sie, um kein Ich oder Du geht, sondern in dem plötzlich eine Verbindung da ist.“
Was für eine Verbindung, nachdem kaum Personen, nur personlose Körper da sind ohne bestimmte Zeit?
Diese Art von Verbindung macht der Tanz. „Die ganze Welt schlüpft in ihr Bewusstsein, ihr Bewusstsein schlüpft in ihren Körper, ihr Körper schlüpft in die Figur. Ihr Bewusstsein, ihr Körper, die Linien auf dem Boden und in der Luft vor ihr fließen ineinander und heben die Wirklichkeit aus den Angeln.“
Der Tanz, der "existenzielle Tanz" ist eine All-Einheit, wie sie aus der Mystik bekannt ist, vielleicht am ehesten nachvollziehbar in Form der Derwischtänze. Von Musik sind Spuren, von Gemeinschaft und Liturgie ebenfalls - aber von Gebet? Wie steht es mit dem Bezug zum Schöpfer des Alls?
Ich kann gerade in der ontologischen Struktur dieses Textes einen Schöpfungsbezug erkennen, aber sozusagen anonym: „Er wollte die Schatten daran hindern, sich zu bewegen, das Licht daran hindern, den Schatten aufzuessen, die Gedanken, die seinen und die seiner Lieben, sollten sich nicht von ihrem Ursprung entfernen.“ Der Text, der Erzähler, die Protagonisten haben ihren Finger am Werden der Welt, dort, wo Handlungen, Personen, Subjektives in die Welt treten könnte - aber halten es zurück. Es ist sozusagen ein Parallelroman, der den Vollzug der Schöpfung anhält und den Raum zwischen den Dingen und dem Seinsgrund betrachtet und: Nichts erblickt, Leere. Leeren Raum. Grenzenlos.
Ist der Text religiös?
Ich finde zwei gegenüberliegende Antworten.
„Er glaubt an die Rückkehr und hat vielleicht immer an die Rückkehr und nichts als die Rückkehr geglaubt. Die Welt ist eine endlose Fläche, in der Texte parallel zueinander liegen, einander da und dort berühren, Licht essen, als wären sie Schatten, Schatten essen, als wären sie Licht, Lebenstexte mit Anfang und Ende, man kann zum Anfang zurückkehren, das Ende kennt man." Das lässt an Reinkarnation denken, buddhistische oder hinduistische Vorstellungen von kosmischen Zyklen mit und ohne persönliches Gottesbild.
„Sie steckt in der sonntäglichen Wohnung wie in einem kratzenden Pullover, sie steckt in jeder Sekunde dieses Sonntags wie in einem kratzenden Pullover, jemand beobachtet sie. Tu nicht so, als würdest du lesen, tu nicht so, als würdest du Musik hören. Du wartest nur und willst nicht wissen worauf.“ Die Schwester, im Kontext ihrer Schwester, ihres verstorbenen Vaters und womöglich des in der Zukunft begegnenden Mannes, der ihre Fotos gefunden haben wird, fühlt sich beobachtet und meint, etwas Kommendes zu spüren. Das könnte auf eine christliche Kosmologie deuten, ein personales Gegenüber in einer ihrer Vollendung entgegenstrebenden Schöpfung. Aber wohlgemerkt, und diesen Gedanken möchte ich gerne zum Schluss stehen lassen: in der Fläche liegen die Texte (die Bedeutungen) parallel!
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fremd worte,
Freitag, 24. Januar 2020, 10:47 PM
Thomas Stangl Eine Leere, ein Surren: Über den Raum der Literatur
In einer berühmten Szene aus Luis Buñuels Film Belle du Jour zeigt ein Bordellkunde, ein selbstzufriedener dicker Japaner, ein kleines Kästchen vor. Er öffnet es, außerhalb des Blick-winkels der Kamera, ein Surren ertönt, die Prostituierte erbleicht. Als Buñuel gefragt wurde, was sich in dem Kästchen befinde, meinte er schlicht: Keine Ahnung.
Das ist eine hübsche Pointe und zugleich die einzig mögliche Antwort. Alles andere wäre lä-cherlich und würde der Szene ihre Kraft nehmen, nicht nur das Geheimnis, sondern auch das Geheimnis des Geheimnisses auflösen: dass es sich auf nichts Bestimmtes beziehen kann, wenn es geheimnisvoll bleiben will, wenn die – typisch Buñuelsche – Balance zwischen dem Lächer-lichen und dem Beunruhigenden gewahrt bleiben soll. Das Geheimnis des Geheimnisses ist: es bezieht sich auf ein Inneres, das nicht benennbar ist, sich auflösen würde, sobald man es be-nennt; das vermutlich nichts ist, eine Leere. Das Geheimnis umgibt eine Leere.
Aber ein Surren ist zu hören.
Kann es sein, dass sich die Kraft der Darstellung aus einem Nichts speist? Jemand öffnet ein Kästchen, es surrt, Phantasien kommen in Gang, erotische, exotische und exotistische, die Phan-tasien von etwas Besonderem, einer fremden, vielleicht der höchsten Lust, einer fremden, viel-leicht der tiefsten Angst; in einem Nichts fallen diese Lust und diese Angst zusammen.
Die Frage ist nicht, was in diesem Kästchen ist. Das Geheimnis entsteht, sobald das Kästchen sichtbar ist, vorgezeigt wird und eine Reaktion auslöst; eine Reaktion im Film, die wiederum eine Reaktion des Zuschauers auslöst (ein Schaudern, ein Lachen, ein leicht schauderndes La-chen). Ein Spiel von Reaktionen entsteht, Abstände, Entfernungen, Unzugängliches, Erwartun-gen; ein anderes Innen wird angesprochen und in ein Verhältnis zur Filmszene gesetzt: das im Zuschauerkörper, diesem Kästchen aus Fleisch und Knochen, zu vermutende Innere (das viel-leicht leere Erwartung ist). Man kann es als das Entstehen eines Musters oder eines Raums se-hen: die Beziehungen von Gegenständen und Menschen, die Abstände zwischen Gegenständen und Menschen, Anziehung und Abstoßung, vor dem Hintergrund einer Schaulust, die aus der Enttäuschung genauso viel Gewinn zieht wie aus der Befriedigung. Die höchste Lust, die tiefste Angst sind in diesem Raum nie zu finden, aber sie sind im Spiel.
Von solch einem Muster her lässt sich das Verhältnis der Literatur zu ihrem Gegenstand lesen, das Verhältnis zu ihrem Sinn, zu ihren Figuren, den Menschen, die im Innern der Bücher ihre Art von Leben oder Beinahe-Leben führen. Was das bedeutet, lässt sich nicht im allgemeinen sagen, sondern nur im einzelnen; es lässt sich zeigen und nicht sagen. In jedem Satz drängen sich, wenn ich darüber zu sprechen versuche, die großen, allgemeinen Wörter heran, Liebe oder Tod, Angst oder Begehren, Lust oder Tiefe, Geheimnis, Nichts und Leere, mit ihrem schalen, abgenutzten Klang, sie surren mir um den Kopf, und ich muss versuchen, sie abzuwehren, zu-rückzudrängen. Ich zögere vor jedem Satz, weil er mir schon zu weit geht, zu viel an Bedeutung verspricht (ein Griff nach dem Kästchen, ein zu faszinierter, ein gleich angewiderter Blick –)
Literatur ist Sprache, die weiß, dass sie Sprache ist; sie ist Sprache, die zugleich (statt nur zu argumentieren und zu referieren) etwas wie körperliche Wirklichkeit beansprucht; sie ist Spra-che, hinter der keine gesicherte (anwesende) Sprecherperson steht: wer hier Ich sagt und erzählt oder beschreibt oder sich Fragen stellt, kann alles und jeder andere als das Ich des Autors sein. Die Widersprüche und Unmöglichkeiten in diesem Feld von Bezügen und Selbstbezügen rund um Sprache, Wirklichkeit und Ich, die Möglichkeiten und Freiräume, die diese Widersprüche öffnen, und die Grenzen und Leerstellen, auf die sie literarisches Schreiben und Lesen stoßen, scheinen aus den Sätzen, Figuren, Texten und Textwelten, um die es gehen soll, hervor, der Gewalt des Begriffs verweigern sie sich (was nichts mit Irrationalismus zu tun hat).
Der Leere hinter der Sprache, der Schwelle, an der in der frühen Kindheit die Erinnerung ein-setzt, dem Gestammel von Träumen, das sich aus dem Schlaf löst, kann man sich vielleicht nur geistesabwesend nähern, indem man redet und andauernd vergisst. In seinem Buch Echolalien, Über das Vergessen von Sprache erzählt Daniel Heller-Roazen, Roman Jakobson folgend, wie Kinder ihre sogenannte Muttersprache erlernen, indem sie die unbegrenzten Lautbildungsmög-lichkeiten der Lallperiode verlernen: „Es ist, als könnten Kinder eine bestimmte Sprache nur durch einen Akt des Vergessens erlernen.“ In der Erwachsenensprache bliebe von diesen unbe-grenzten – aber auch undifferenzierten – Möglichkeiten höchstens ein Echo: „das Echo eines anderen Sprechens oder von etwas anderem als Sprechen“, das „durch sein Verschwinden erst Sprache ermöglichte“. Später spitzt Heller-Roazen Diskussionen jüdischer Mystiker über den Buchstaben Aleph (dem kein Laut, kein Klang mehr zugeordnet ist) und die Offenbarung am Berg Sinai zu: die an dem Berg versammelte Menge der Israeliten hörte, so die letzte Konse-quenz von deren Tora-Interpretationen, vom Text der göttlichen Rede nichts als einen einzigen Schall, das „Ich“, mit dem diese Rede einsetzt, oder vielmehr nur den Anfangsbuchstaben dieses Ich: Aleph, dem Buch Bahir zufolge die „Wurzel der zehn Gebote“. Heller-Roazen folgert: „Die gesamte Offenbarung reduziert sich auf einen einzigen Buchstaben, an dessen Klang sich nie-mand zu erinnern vermag… Als das einzig Greifbare an der göttlichen Rede markiert der stum-me Buchstabe das Vergessen, aus dem jede Sprache hervorgeht. Das Aleph ist der Platzhalter des Vergessens am Anfang jedes Alphabets.“
Aber ist, wenn es um Literatur, also um Wirklichkeit geht, dieses Vergessen „des Anfangs“ nicht schon zu allgemein – also zu viel und zu wenig? Wenn es nicht um den Anfang geht, gar keinen Anfang gibt und die Setzung, mit der ein Autor unhörbar „ich“ sagt, unbedeutend ist, es gibt nur im Nachhinein ein Echo, ein Vergessen, das Surren einer Leere; dies wäre die Grenze, an die die Literatur stößt, an die Sprache und Wahrnehmung durch die Literatur stoßen?
Das ist kein festes Fundament, ganz im Gegenteil; dennoch hat die Kraft von Texten, Geschich-ten, diesseits der Schwelle, mit diesem Wenigen, diesem Fast-Nichts zu tun, hängt vielleicht davon ab, so wie sie von der Energie des Schmerzes (der Angst), des Begehrens (der Lust) und dem verweigerten Vertrauen auf diese großtuenden Wörter abhängt. Was an Vertrauen bleibt, ist auf wenig gegründet; jeder Blick, jeder Satz versucht, sich der Wirklichkeit zu versichern. Ich schaue ins Zimmer und sehe ein paar Gegenstände, im Raum verteilt: Lampe, bist du noch da, fragt Robert Walser (und wiederholt in Andrea Winklers König, Hofnarr und Volk eine Ro-manheldin, die statt der Lampe schon, an der Wand hängend, das Gedicht von der Lampe vor sich hat).
Hier, im Raum verteilt, finde ich die Wörter; sobald die Wörter da sind, finden sich auch die Dinge ein.
Dann kommt etwas dazu, die Erinnerung an ein Gesicht, zum Beispiel, an einen ganz bestimm-ten Moment (gleichgültig, ob man ihn erlebt hat oder nicht oder vielleicht gerade jetzt, in diesem Moment erlebt), an eine Geste oder ein Lächeln, vielleicht ist es nicht eine Erinnerung, sondern zum Beispiel eine Fotografie, aus der heraus (wann ist das Bild aufgenommen worden?) mir ein Blick begegnet, und das Spiel beginnt, ein Spiel von Abständen: ein Muster, ein Raum. Roland Barthes beschreibt in seinem Fotografie-Buch Die helle Kammer ein Schwarzweißfoto, auf dem ein schöner junger Mann zu sehen ist, ein gewisser Lewis Payne, im Sitzen, ziemlich lässig an eine narbige Stahlblechwand gelehnt, die Gelenke in Handschellen. Das Foto ist kurz vor der Hinrichtung des jungen Mannes aufgenommen, Lewis Payne hat 1865 versucht, den amerikani-schen Außenminister zu ermorden. Barthes schreibt: „Das punctum aber ist dies: er wird ster-ben. Ich lese gleichzeitig: das wird sein und das ist gewesen … Was mich besticht, ist die Ent-deckung dieser Gleichzeitigkeit: … ich erschauere (…) vor einer Katastrophe, die bereits statt-gefunden hat. Gleichviel, ob das Subjekt, das sie erfährt, schon tot ist oder nicht, ist jegliche Photographie diese Katastrophe. … Immer wird hier die Zeit zermalmt: dies ist tot und dies wird sterben.“
Die Zeit wird zermalmt – oder zerspalten und gewendet; ich nehme, im Raum der Beschreibung, Schichten von Zeit wahr (Lampe, bist du noch da? Zimmer mit der Lampe, dem Stuhl, Robert Walser, der auf die Lampe schaut oder sich an sie zu erinnern versucht, Zimmer mit dem Ge-dicht an der Wand?); ich nehme einen Blick wahr, und es ist nicht leicht zu sagen, woher dieser Blick kommt (aus einer Zeit, die es nicht mehr gibt, von einem Menschen, den es nicht mehr gibt oder der jedenfalls nicht hier ist?) und ob vielleicht dieser Blick den Raum erst begrenzt und bestimmt. Zwei Aspekte sind wesentlich: jene Zeitstruktur, die für mich eine der Vergegenwär-tigung, die einer gebrochenen und vielfach geschichteten Gegenwart ist, und der (vom Papier her, aus dem Bildraum erwiderte) Blick auf das Einzelne, diese Lampe und ihren Lichtschein oder diesen Menschen aus dem 19. Jahrhundert, den einzelnen Menschen, der für nichts ande-res steht als für sich selbst, den anderen, der sterben wird, so wie ich, und der gestorben ist. Man kann (wenn auch nicht immerzu und ohne es immer zu wissen) jeden so ansehen: auf die-ses Vereinzelt-Sein, dieses Für-Nichts-Stehen, dieses Geheimnis, diese nicht ganz geteilte Ge-genwart hin. Ein Moment der Einsamkeit, der sich dem Sozialen – und damit der Gewalt, auch der Gewalt des Erzählens – entzieht; und zugleich der Moment einer seltsamen, indirekten Be-gegnung: des Respekts vor dem anderen (und sei dieser andere nur eine Romanfigur), einer Form von Liebe, denn auch Liebe gilt nichts Funktionalem und keiner bestimmten Eigenschaft und ist im Wesen asozial. Auch die Liebe erreicht das Geliebte nie ganz, kommt dem anderen, der anderen Gegenwart so nah wie nur möglich und verfängt oder verliert sich doch an der Grenze der Haut, vor der Grenze der Augen in einem Bild- und Spielraum, in dem jeder dem oder der anderen, die er oder sie sieht und berührt, anderer oder andere ist; zwei Gegenwarten, die fast in eins fallen, fast. Zwei Körper, Kästchen aus Fleisch und Knochen.
Die Trauer, das Begehren, die Fiktion gewinnen an dieser Grenze ihre Kraft, in diesem Moment der Einsamkeit und der Nähe. Wenn Jacques Derrida schreibt: „Ich kann unter keinen Umstän-den über den Fremden sprechen, ihn zum Thema machen“, dann deshalb, weil dieser Verzicht auf Beherrschung des anderen, des Fremden als Gegenstand erst seine Gegenwart (von der ei-genen einen Hauch entfernt), die Blicke, die Berührung ermöglicht, den Raum schafft. Die Sprache dieses Verzichts, des Souveränitätsverlusts, angesichts eines Gegenstands, der nicht einfach Gegenstand sein darf, ist für mich die Sprache der Literatur. Dieser Verlust an Souverä-nität ist, denke ich, der Gewinn der Literatur, ist das, was sie von Liebe und Tod sprechen lässt, ohne dass sie wüsste (wissen müsste oder wissen dürfte), was Liebe und Tod sind. Es gibt ei-nen Ort in der Sprache, wo das Erklären aufhört, die Gewalt der Beschreibung – die Souveräni-tät, die Beherrschung des Gegenstandes – ein Ende findet und das Einzelne, Besondere ins Bild tritt. Ein Moment der Vergegenwärtigung, jener Moment, in dem (wie Derrida in Mémoires, Paul de Man folgend, schreibt) ein Name „so intelligibel, so erinnerlich“ wie ein Gesicht wird.
Auf jene Undurchdringlichkeit (wo sozusagen das Wort Fleisch wird) richtet sich das literari-sche Schreiben, in ihr (hinter dem Muster, im Raum der Erzählung, der niemals der ihrer wirkli-chen Gegenwart ist), gewinnen die Personen das, was sie ausmacht, in ihr verlieren sie sich.
Ich lese einen Roman, immer wieder, folge der Romanfigur, die vielleicht einmal ein wirklicher Mensch war und von der ich (weil ich das Ende des Buches kenne oder weil das Buch in einer vergangenen Zeit spielt) weiß, dass sie gestorben ist. Ich weiß, dass sie gestorben ist, und weiß, während ich das Buch lese, dass sie sterben wird, innerhalb oder außerhalb der Fiktion. Ich identifiziere mich mit der Figur und doch werde ich nie ganz sie sein, so wie sie nie ganz ich sein wird.
Ich sage „ich“ und mache mich zu einer literarischen Figur, vielleicht zu einer Romanfigur, die einmal (niemand wird genau wissen wie) wirklich gelebt haben wird und von der ein anderer lesen, mit der er sich vielleicht identifizieren wird. Lampe, bist du noch da?
Dieses Sprechen, dieses Schreiben, dieser Raum, der im Schreiben entsteht, geht aus vom Nichts des Ich-Sagens, dem Aleph (statt einer Person ein unhörbarer Buchstabe), und verliert sich im Nichts eines fremden Namens, einem Geheimnis, das ohne Eigenschaft und jedem das Eigenste ist. Dazwischen, von diesen Grenzen bestimmt, gibt es einen Raum; ohne den Raum gäbe es auch die Grenzen nicht, niemanden, der ich sagt, niemanden, der liest oder gelesen wird.
Das Geheimnis, die Grenze ist in den Figuren, in der Sprache, sie ist im Leser (als Komplizen des Autors), im Körper des Lesers, dieses Kästchens aus Fleisch und Knochen. Es hat mit Liebe (mit Respekt) zu tun und mit dem Tod (dem Schrecken). Es ist da, auch wenn nichts als die Struktur, der Raum, die Abstände da sind.
Was eine Frage des Glaubens sein könnte, lässt sich in Text verwandeln: Struktur, Raum, Ab-stand und eine Magie, die auf nichts beruht. Einige Beispiele können vielleicht erläutern, was ich meine; zunächst ein Satz aus dem Filmessay Sans Soleil von Chris Marker, den ich, wie viele Sätze aus diesem Filmessay, seit Jahren im Kopf habe: „Selbst wenn die Straße leer war,“ heißt es hier, „blieb ich bei roter Ampel stehen: nach japanischem Brauch, um Platz für die Geister der Autowracks zu lassen. Selbst wenn ich überhaupt keinen Brief erwartete, bleib ich vor dem Schalter der postlagernden Sendungen stehen, denn man muss die Geister der zerrissenen Briefe ehren, und vor dem Luftpostschalter stand ich, um die Geister der nicht abgeschickten Briefe zu grüßen. Ich ermaß die unerträgliche Eitelkeit der westlichen Welt, die nicht aufhört, das Sein dem Nichtsein und das Gesagte dem Nichtgesagten zu bevorzugen.“
Glaube ich an die Geister der Autowracks, an die Geister der zerrissenen Briefe? Warum sind mir, wenn ich nicht daran glaube, diese Sätze wichtig? Welcher Glaube anstelle eines Glaubens gibt den Sätzen für mich als Filmzuschauer ihre Überzeugungskraft; und wo, in welchen Ni-schen des Wirklichen, gibt es die Geister von Autowracks in all ihrer Unwirklichkeit? Ich sehe das Bild einer Straßenkreuzung in Japan, sehe, dass ich keine Geister sehe, höre eine Stimme Sätze sagen, die sich in meine Erinnerung graben, als würde ich sie glauben. Ich glaube es, ohne es zu glauben, weil die Bilder und die Sätze zusammenpassen und weil Bilder und Sätze einen Raum offenlassen oder erst öffnen: paradox formuliert, weil sie einen Raum des Unglaubens öffnen, wo die Geister daheim sind, die es nicht gibt, die zerrissenen, die nie geschriebenen Briefe, wo die Dinge und die Menschen, die Lebenden und die Toten sich treffen.
Eine Kurzgeschichte von David Foster Wallace trägt den Titel Incarnations of Burned Children; es ist eine Geschichte, die fast unerträglich zu lesen ist: auf wenigen Seiten wird detailliert be-schrieben, wie sich ein kleines Kind mit kochendem Wasser verbrüht, wie seine Eltern vergeb-lich versuchen, es zu retten, wie das Kind stirbt; am Ende des Textes wechselt die Perspektive, das heißt, die Perspektive, die eines atemlosen, aber distanzierten Erzählers, der die Rollen (the toddler, the Daddy, the Mommy) fast abstrakt zuweist, wechselt nicht, aber der Erzähler verlässt die Wirklichkeit, die Welt der Eltern und ihres Schmerzes, und folgt dem Baby in den Tod: „… the child had learned to leave himself and watch the whole rest unfold from a point overhead, and whatever was lost never thenceforth mattered, and the child´s body expanded and walked about … a thing among things, its self´s soul so much vapor aloft, falling as rain and then ri-sing, the sun up and down like a yoyo.“ Ist das ein Trost? Und wenn ja, weshalb ist dieser Trost nicht verlogen: nur weil er nichts von der Unerträglichkeit, vom Schmerz zurücknimmt, nur weil er nichts Konkretes – außerhalb des Raumes der Erzählung – verspricht, oder noch aus anderen Gründen? Weil am Ende nur ein Bild bleibt, wie aus einem Traum, in dem ein Yoyo sich auf und ab bewegt, schmerzhaft und wunderbar klar, und auf irgendeine Weise, die man besser nicht erklären sollte, alles in dem Yoyo, in dem Bild enthalten ist? Was bleibt vom Versprechen, das keinen konkreten Inhalt hat – aber eingefasst ist in ein wunderbar klares, schmerzhaft klares, schmerzhaftes, wunderbares Bild? Ist das der Inhalt des Versprechens: ein Ding zu werden oder das Bild von einem Ding, ein Zeichen, deutungslos, schmerzlos, bewusstlos oder jedenfalls beinahe bewusstlos? Wie lässt sich Betrug, die Vorspiegelung eines Trosts, von ästhetischer Wahrheit unterscheiden?
„Ästhetische Erfahrungen suggerieren keinen falschen Halt“, schreibt Roger M. Buergel „son-dern lehren, Spannungen und Komplexität auszuhalten. Und sie lehren, die Lust auszuschöpfen, die entsteht, wenn man realisiert, dass dieser bodenlose Grund ästhetischer Erfahrung wider alle Erwartungen trägt."
Noch ein Beispiel aus diesem Reich der Zeichen und der Spannungen, in dem Fall der bildenden Kunst (die ich, wie den Film, was auch immer sie sonst noch alles sein mögen, hier einfach als Teile des literarischen Raums auffasse, den ich bewohne). Zwischen 17. August und 30. De-zember 1957 malte Pablo Picasso 44 Variationen von Velázquez´ Gemälde Las Meninas sowie, an einigen Tagen im September, neun Bilder von Tauben, in Käfigen vor großen Fenstern in Picassos Villa an der Küste von Cannes (die Villa gibt es noch und die Küste). Diese Bilder hängen alle im Picasso-Museum in Barcelona, ich gehe durch die Säle, schaue mir die Bilder an, denke einen Satz: Wie von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag das Licht verrutscht. Daraus Formen machen, denke ich. Einmal habe ich in Madrid das Gemälde von Velázquez gesehen, ich habe etwas darüber gelesen, dennoch habe ich es nicht mehr allzu genau im Kopf, das Un-wichtigste daran sind jedenfalls für mich die wirklichen Menschen, das Königspaar, die Infan-tin, die Hofdamen, die Zwerge, die Vorbilder, das heißt, das Unwichtigste ist, wer diese wirkli-chen Menschen waren (das ist Nichts: ein leeres Kästchen), wichtig ist, wie sie sich verwandeln, was sie werden, gemalt, durch den Maler im Bild, von dem, wie von seinen Figuren, nur ein paar Pinselstriche bleiben werden, ein Farbauftrag. Wichtig ist dieser ganz bestimmte Ort, das Picasso-Museum im Born-Viertel in Barcelona, heute, die Villa in Cannes, 1957, das genaue Datum im August, September, Oktober, November, Dezember. Das Licht verrutscht, gerinnt zu Formen; darin kann man von Bild zu Bild Figuren folgen, sie ihre eigene Form gewinnen und verlieren lassen, Figuren aus der Vergan¬genheit, die einmal Zwerge waren, Hofnarren, Maler, Infantin¬nen oder Hofdamen in weiten Kleidern, Hunde, und die Zeit von Picasso und die von Velázquez spiegeln sich ineinander. Eine schwache Ordnung, von zarten Wiederkünften gehal-ten, zieht ein Netz über mehr als 300 Jahre; das 17. und das 20. Jahrhundert sind in den Zeichen gegenwärtig, der September 1957 mit seinem Sonnenlicht und seinen Farben, dem verrutschen-den Licht, den verrutschenden Farben, die Tauben, die Verschläge, das Fensterbrett, der Bogen des Fensters, das Meer dahinter und eine Landzunge, die sich ins Meer schiebt, und ein ferner Tag in einem Palast in Madrid, diese Tage und Dinge, diese Lebe¬wesen, die nicht mehr da sind und doch zu sehen. Gesichter werden zu Zeichen, Kreuzen, Sternen, ver¬wandeln sich, Zeiten antworten aufeinander, nicht unbedingt die Gegenwart auf die Ver¬gangenheit, auch umge¬kehrt: die Endlosigkeit des Antwortens in einem beschränkten Raum. Wichtig sind die weißen und grünen Flächen, die Nasenhäkchen, Augenkreise, Kleiderdreiecke, Hundefleckchen, Rau¬ten, wichtig ist jene Doppelfigur, die immer abstrakter wird, ein Kasten mit zwei Gesichts¬kreisen, zwei Händen. Dann glaube ich im Spiel der Formen und Zeichen eine plötzliche Unschuld wahrzunehmen, eine Unschuld von Gesten und Blicken (so als hätte man – wer, ich, Picasso, die Hofdamen? – , mit den Worten Kleists, ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis geges-sen).
Literatur ist für mich diese Struktur, dieses Netz von Blicken, dieses Antworten und unschul-dig-deutungslose Zeichensein; das Glück dieses Struktur- und Zeichenseins. Kann es gleichzei-tig um Unschuld und Glück gehen und darum, den Schrecken nicht zu vergessen?
Ich erinnere mich, wie ich das Ende von Imre Kertész´ Roman eines Schicksallosen las und da-bei dachte: Das ist das Ungeheuerlichste, das Entsetzlichste, was ich je gelesen habe. Ich dachte es nicht nur mit Schaudern, sondern auch mit einem Glücksgefühl; ich bin mir sicher, Kertész hat diese Seiten auch mit einem Glücksgefühl geschrieben.
So pervers es scheint und vielleicht gerade weil es pervers scheint, dieses Glücksgefühl hat et-was mit Wahrheit zu tun und mit der Unbestimmbarkeit dieser Wahrheit. Ich bin beim gleichen Thema wie in den vorherigen Beispielen, aber ich rede nun auch von Geschichte und weshalb sie in der Literatur richtig aufgehoben ist – eben weil sie darin niemals ganz aufgehoben sein kann, sondern immer eine Wunde offen bleibt. Mit perverser Lust, mit einer uneingestandenen Hoffnung schaut man auf diese Wunde, berührt sie, immer wieder. Und zwar nicht im allgemei-nen, sondern an ganz konkreten Punkten: einzelne Menschen, einzelne Geschichten (die von der „großen“ Geschichte getroffen und zermahlen werden), bestimmte Räume. Erinnerungen als wäre das Erinnerte noch da.
In der Geschichte des Schicksallosen, der aus Auschwitz und Buchenwald zurückkommt und merkt, dass es kein Leben und kein Land gibt, in das er zurückkommen kann; dass er in Auschwitz und Buchenwald daheim ist, Heimweh nach Auschwitz, nach Buchenwald hat, er-zählt Kertész keine Erfahrung, sondern macht die Unmöglichkeit der Erfahrung, das Ende indi-vidueller Erfahrung erfahrbar.
Die Bilder, die Informationen verbrauchen sich, selbst die schrecklichsten Bilder, die unerträg-lichsten Informationen; wenn nicht etwas anderes dazukommt, ein Raum; wenn nicht die Bilder oder etwas zwischen den Bildern und Wörtern einen Raum öffnen, fürs Denken, für die Ver-zweiflung und sogar für die Schönheit; für die Geister, die man beschwören muss, auch wenn man weiß, dass sie nicht ins Leben zurückzuholen sind. Eine Notwendigkeit, eine Unmöglich-keit.
Weil er das weiß und darauf insistiert, behält ein Film wie Claude Lanz¬manns Shoah seine Kraft: weil er nicht auf die Darstellbarkeit vertraut, sondern von den Grenzen des Darstellbaren handelt, sich diesen Grenzen nähert, sie sichtbar, körperlich spürbar macht. Er zeigt die Qual, die Notwendigkeit des Erinnerns, wie sich im Sprechen Erinnerung und damit Wirklichkeit formt. Er zeigt die Orte mit ihren fast magischen Schreckensnamen; sie werden sichtbar, eben weil nicht zu sehen ist, was hier getan wurde, sondern das sommerliche Gras, die Wege, die Bahngeleise, die nahen Bauernhöfe, während Stimmen erzählen, erinnern, ein Netz des Ge-dächtnisses knüpfen. Zwischen Bildern und Orten spannt sich die Zeit; die Toten sind in den Bildern, in denen sie nicht zu sehen sind, in den Sätzen, sie sind in der Kluft zwischen den Bil-dern und den Sätzen, dem Sichtbaren und dem Ungeheuerlichen der Geschichte. Statt zu tun, als stünde einem einfach Information übers Vergangene zur Verfügung, macht der Film Shoah mehr zugänglich als ein beliebiges Wissen; er öffnet zugleich den Abgrund unter dem Wissen; zeigt und sagt mehr, als bloße Bilder zeigen, als bloße Sätze sagen können. Die Kluft zwischen Sätzen und Bildern, Gegenwart und Vergangenheit bleibt offen, eine Leere, ein Nichts; das Wissen, die Wahrheit ist eine fragile, notwendige Konstruktion über Abgründen; ohne die Lee-re, das Nichts wäre sie weniger wahr.
Nicht obwohl, sondern eben weil der Film mit künstlerischem bzw. (in meinem Sinn) „literari-schem“ Bewusstsein, mit Sinn für Nicht-Darstellbares, mit Sinn für einen Raum, eine Stille hin-ter den Sätzen und Bildern gemacht ist, hat er mehr an geschichtlicher Wahrheit als jede aufs Dokumentarische, die Darstellbarkeit vertrauende Auseinandersetzung mit der Shoah: die Wahrheit beruht auf der Distanz; darauf, dass das Zentrum leer ist, es keinen Punkt der Auflö-sung, des Gelingens – der Bewältigung, Sinngebung – gibt. Durch diese Distanz, diese Leere entsteht eine seltsame Schönheit, die so skandalös wie notwendig ist. Ein Glück des Sehens und Wissens, als ein seltsamer Trost, der nichts vom Schmerz zurücknimmt. Im Gegenteil, auch hier antwortet die Vergangenheit auf die Gegenwart, schneidet ihren Schmerz in sie ein.
Dieses Glück, diese Schönheit rechtfertigen kein Verbrechen und kein Leid, sie entfalten sich in einer anderen Form von Nachträglichkeit, machen eher einen Moment des Widerstands aus, des nachträglichen, unmöglichen Widerstands, des unmöglichen und notwendigen nachträglichen Widerstands, der Unversöhnlichkeit.
Diese Paradoxien bestimmten für mich ganz allgemein das Verhältnis von Literatur zur Ge-schichte. Manchmal besteht der Widerstand einfach darin, einen Namen zu sagen, sich an einen Namen zu erinnern, mehr als der Name ist nicht mehr da, aber der Widerstand besteht darin, sich an das Nicht-mehr-da-Sein zu erinnern, die Leere zu sehen, die zurückgeblieben ist. So wie für Georges Perec, dessen Vater im Weltkrieg und dessen Mutter im Vernichtungs¬lager starb, in W oder die Kindheitserinnerung seine Kindheitserinnerung die Abwesenheit von Erinnerungen ist: „Ich weiß, dass ich nichts sage … ich weiß, dass das, was ich sage leer ist, farblos, ein für allemal das Zeichen für eine Vernichtung, die ein für allemal ist“: eine Leere, über die er in dem Roman eine passend-nichtpassende fiktive Dystopie legt: nicht um sie zu verdecken, sondern damit dieses Weiß, diese Leere sich umso schärfer abzeichnet.
Eine Wunde bleibt offen, eine Lücke, etwas wartet auf eine Antwort, man hat keine Antwort, nur jene Magie, die auf nichts beruht, und dank der Zeiten aufeinander antworten können, ei-nander lesen. Eine Zukunft kann ohne Besserwisserei eine Vergangenheit lesen, eine Vergan-genheit die Gegenwart, als andere Gegenwart, die Zeiten antworten als Gegenwarten aufeinan-der. Ohne Endgültigkeit, ohne Hierarchie. In jeder gibt es einen Moment von Nacktheit und Unschuld, einen unverständlichen Moment, dem alle Zärtlichkeit gelten soll. Wo die Macht, die Gemeinheit sich auflösen
„Ich schreibe“, heißt es bei Perec weiter, „weil wir zusammen gelebt haben, weil ich einer unter ihnen gewesen bin, ein Schatten inmitten ihrer Schatten, ein Körper nahe bei ihren Körpern; ich schreibe, weil sie in mir ihr unauslöschliches Zeichen hinterlassen haben und weil das Schreiben die Spur dieses Zeichens ist: die Erinnerung an sie ist für das Geschriebene tot; das Geschriebe-ne, das Schreiben, ist die Erinnerung an ihren Tod und die Bejahung meines Lebens.“
Alles, wovon bisher die Rede war, hat zu tun mit dem Verhältnis der Literatur zum Tod: einem seltsam gespaltenen Verhältnis, es kann sowohl scheinen, sie würde den Tod aufhalten wollen, ihn nicht akzeptieren, ihm etwas entreißen, Vergangenes wieder zum Leben erwecken, als auch, sie gehörte selbst eher dem Bereich des Todes, des Toten an als dem des Lebendigen und des Lebens.
Der Tod, die Erinnerung, die Bejahung des Lebens nehmen in diesem Raum ihre Positionen ein, bestimmen ihn, tauschen immer wieder die Plätze.
„Ich bin die Gedenkstätte des ...“ steht auf den ältesten griechischen Grabinschriften. Daniel Heller-Roazen stellt eine Verbindung von diesen rätselhaften Grabstelen zur Literatur her: das Grab wie der Text sind ein Objekt, das ich sagt. Mit immer ausgeklügelteren Methoden versucht dieses Objekt, der Text, der wie ein Grab ist, vergessen zu lassen, dass es ein Objekt ist, an der Stelle von etwas anderem steht, von etwas, das gestorben ist oder gestorben sein wird.
Was ist dieses Etwas, ein Niemand, ein Nichts?
Ich zitiere, ohne viel dazu zu sagen, aus den letzten Seiten von Peter Waterhouse´ (Krieg und Welt), wo der Erzähler den Krebstod seiner jungen Frau (oder die Erinnerung an den Krebstod seiner Frau oder das Erzählen von diesem Tod) beschreibt: die Tote „sei da, so wie alle Gestor-benen da seien… die Toten seien wie Kinder, fast so wehrlos, fast so jung, fast so neu.“ Er er-zählt seinen, ihren schlafenden Kindern „wie ich zum spätnächtlichen Zeitpunkt in der Todes-nacht aufgeweckt wurde von niemandem. Niemand und nichts hatte mich aufgeweckt, um zu sagen: Jetzt sterbe ich; jetzt bin ich gestorben. Die mich Aufweckende, das mich Aufweckende, der mich Aufweckende war nicht im Zimmer, ging nicht, rief nicht, schüttelte nicht wach, flüs-terte nicht ins Ohr, sondern da war nur das um zu – um mir zu sagen: jetzt; und jetzt. (…) Ich erhob mich, aber nicht ich erhob mich, denn da war nichts (…) Ich war nicht verständigt, zu Hilfe gerufen worden. Da war nur: jetzt bin ich tot, wie es niemand sagen kann. Ich ging zum Bett der Kranken, fast grundlos, ungerufen oder nirgendwohin gerufen. Ich ging nirgendwohin und saß nirgendwo am Bett der Kranken. Es gab den themenlosen Himmel, ich sah und hörte ihn nicht, ich war in Aufregung, mein Herz schlug schneller. Die Tote war wie ein Lebewesen. Die Tote war jetzt nicht tot, sondern sie war tot, um zu … Sie war gestorben, um zu … Das um zu war ein Zwischenraum. Sie konnte gehen, um zu … Sie konnte fortgehen, um zu … Ich hör-te in dem um zu einen unbekannten Wert und einen Zwischenwert. Die Kranke war gestorben, um zu … um einen unbekannten Wert … um einen unbekannten Wert zu haben.“
(„Ist die Poesie die Welt?“ fragt sich dieser Erzähler an einer Stelle des Buches und antwortet: „Ja.“)
Literatur ist Struktur und Beziehung: das Erscheinen des Wirklichen braucht einen Raum, nicht unbedingt einen Sinn. Das Zentrum dieser Struktur ist (oder wäre, wenn es ein Zentrum gäbe) etwas, das „nicht in Frage steht“: das Nichts eines Inneren, um das sich das Geheimnis (Poesie, die Welt) formt.
Dann, in all diesen Beziehungen, der Verteilung der Gegenstände, der Wörter im Raum, den Kräften, die zwischen ihnen wirken, ihren Bewegungen entscheidet sich, ob das Geheimnis – im Film, in der Kunst, in der Literatur – auf Betrug beruht, einer Vortäuschung, oder ob da mehr ist: eine entscheidende Unruhe, etwas Drängendes und ein Versprechen, das in den Sätzen ist; das Versprechen Sprache, das Glück und die Ungeheuerlichkeit, ein Zeichen zu sein.
Ich sehe eine japanische Straßenkreuzung und die Seelen der toten Autos, die ich nicht sehe, ich sehe von Gras überwucherte Schienenstränge in Polen und einen Berg von Koffern mit Na-mensschildern in altmodischer Schrift. Das eine – fast harmlose – Bild und das andere Bild, in dem aller Schrecken enthalten ist, sagen beide nicht nur etwas über unser Verhältnis zu den Dingen aus, sondern bringen auch eine drängende Sehnsucht zur Sprache: halten sie in der Sprache, ohne falsche Behauptung, ohne falsche Lüge, so hält die Literatur etwas (das Leben, Nicht-Leben) in der Sprache. Etwas, das in sozialen Zuschreibungen, wissenschaftlichen Defi-nitionen, in dem, was für das normale Leben gilt, nicht zu fassen ist, das nicht groß ist, nicht gut und nicht böse, keine Macht und keine Allmacht hat, und das in der Sprache, die sich selbst spricht, erscheint; wenn auch nur oder fast nur als Leere. Das Objekt sagt Ich, man hört ein Al-eph, einen klanglosen Buchstaben. Wer soll das hören und wozu?
Um zu –
Ich habe nicht ganz richtig zitiert:
– Was Sie wollen, hat Buñuel eigentlich auf die Frage nach dem Inhalt des Kästchens geantwor-tet. Aber man kann sich nicht nach freiem Belieben aussuchen, was man will.
Es ist gut, dass das Kästchen mit Was-Sie-wollen gefüllt, also leer – oder wie das Kästchen mit Schrödingers tot-lebendiger Katze bei jeder fast beliebigen Füllung immer gleichzeitig auch leer – ist. Das Geheimnis gibt keinen Halt, es ist gut (oder sagen wir, es ist gar nicht so schlecht), dass der Wunsch nach Verbindlichkeit, Gemeinschaft, Fülle des Sinns, einem festen Fundament im Unbegreiflichen (wie ihn Rilke an einer Stelle in Malte Laurids Brigge fürs Theater, also alle Kunst, wie fürs sogenannte Wirkliche formuliert) ins Leere geht und niemand „nach der Wand einer gemeinsamen Not“ schreit, „hinter der das Unbegreifliche Zeit hat, sich zu spannen und anzusammeln.“ Weder nach der Gemeinsamkeit noch nach der Not noch nach dieser göttlichen oder monströsen Fülle, die dem Unbegreiflichen nur die Unbegreiflichkeit nimmt, dieses Nichts oder Fast-Nichts hinter der Grenze, von der her ein leises, inständiges Surren ertönt. Die zarte, nichtige Würde der Gegenstände und Menschen, der Geister und der Zeichen hängt davon ab.
Dieser Essay wurde für eine Ringvorlesung an der Universität Frankfurt zum Thema Literatur und Religion geschrieben und dort am 4.6. 2014 vorgetragen, in schriftlicher Form ist er un-veröffentlicht.
Das ist eine hübsche Pointe und zugleich die einzig mögliche Antwort. Alles andere wäre lä-cherlich und würde der Szene ihre Kraft nehmen, nicht nur das Geheimnis, sondern auch das Geheimnis des Geheimnisses auflösen: dass es sich auf nichts Bestimmtes beziehen kann, wenn es geheimnisvoll bleiben will, wenn die – typisch Buñuelsche – Balance zwischen dem Lächer-lichen und dem Beunruhigenden gewahrt bleiben soll. Das Geheimnis des Geheimnisses ist: es bezieht sich auf ein Inneres, das nicht benennbar ist, sich auflösen würde, sobald man es be-nennt; das vermutlich nichts ist, eine Leere. Das Geheimnis umgibt eine Leere.
Aber ein Surren ist zu hören.
Kann es sein, dass sich die Kraft der Darstellung aus einem Nichts speist? Jemand öffnet ein Kästchen, es surrt, Phantasien kommen in Gang, erotische, exotische und exotistische, die Phan-tasien von etwas Besonderem, einer fremden, vielleicht der höchsten Lust, einer fremden, viel-leicht der tiefsten Angst; in einem Nichts fallen diese Lust und diese Angst zusammen.
Die Frage ist nicht, was in diesem Kästchen ist. Das Geheimnis entsteht, sobald das Kästchen sichtbar ist, vorgezeigt wird und eine Reaktion auslöst; eine Reaktion im Film, die wiederum eine Reaktion des Zuschauers auslöst (ein Schaudern, ein Lachen, ein leicht schauderndes La-chen). Ein Spiel von Reaktionen entsteht, Abstände, Entfernungen, Unzugängliches, Erwartun-gen; ein anderes Innen wird angesprochen und in ein Verhältnis zur Filmszene gesetzt: das im Zuschauerkörper, diesem Kästchen aus Fleisch und Knochen, zu vermutende Innere (das viel-leicht leere Erwartung ist). Man kann es als das Entstehen eines Musters oder eines Raums se-hen: die Beziehungen von Gegenständen und Menschen, die Abstände zwischen Gegenständen und Menschen, Anziehung und Abstoßung, vor dem Hintergrund einer Schaulust, die aus der Enttäuschung genauso viel Gewinn zieht wie aus der Befriedigung. Die höchste Lust, die tiefste Angst sind in diesem Raum nie zu finden, aber sie sind im Spiel.
Von solch einem Muster her lässt sich das Verhältnis der Literatur zu ihrem Gegenstand lesen, das Verhältnis zu ihrem Sinn, zu ihren Figuren, den Menschen, die im Innern der Bücher ihre Art von Leben oder Beinahe-Leben führen. Was das bedeutet, lässt sich nicht im allgemeinen sagen, sondern nur im einzelnen; es lässt sich zeigen und nicht sagen. In jedem Satz drängen sich, wenn ich darüber zu sprechen versuche, die großen, allgemeinen Wörter heran, Liebe oder Tod, Angst oder Begehren, Lust oder Tiefe, Geheimnis, Nichts und Leere, mit ihrem schalen, abgenutzten Klang, sie surren mir um den Kopf, und ich muss versuchen, sie abzuwehren, zu-rückzudrängen. Ich zögere vor jedem Satz, weil er mir schon zu weit geht, zu viel an Bedeutung verspricht (ein Griff nach dem Kästchen, ein zu faszinierter, ein gleich angewiderter Blick –)
Literatur ist Sprache, die weiß, dass sie Sprache ist; sie ist Sprache, die zugleich (statt nur zu argumentieren und zu referieren) etwas wie körperliche Wirklichkeit beansprucht; sie ist Spra-che, hinter der keine gesicherte (anwesende) Sprecherperson steht: wer hier Ich sagt und erzählt oder beschreibt oder sich Fragen stellt, kann alles und jeder andere als das Ich des Autors sein. Die Widersprüche und Unmöglichkeiten in diesem Feld von Bezügen und Selbstbezügen rund um Sprache, Wirklichkeit und Ich, die Möglichkeiten und Freiräume, die diese Widersprüche öffnen, und die Grenzen und Leerstellen, auf die sie literarisches Schreiben und Lesen stoßen, scheinen aus den Sätzen, Figuren, Texten und Textwelten, um die es gehen soll, hervor, der Gewalt des Begriffs verweigern sie sich (was nichts mit Irrationalismus zu tun hat).
Der Leere hinter der Sprache, der Schwelle, an der in der frühen Kindheit die Erinnerung ein-setzt, dem Gestammel von Träumen, das sich aus dem Schlaf löst, kann man sich vielleicht nur geistesabwesend nähern, indem man redet und andauernd vergisst. In seinem Buch Echolalien, Über das Vergessen von Sprache erzählt Daniel Heller-Roazen, Roman Jakobson folgend, wie Kinder ihre sogenannte Muttersprache erlernen, indem sie die unbegrenzten Lautbildungsmög-lichkeiten der Lallperiode verlernen: „Es ist, als könnten Kinder eine bestimmte Sprache nur durch einen Akt des Vergessens erlernen.“ In der Erwachsenensprache bliebe von diesen unbe-grenzten – aber auch undifferenzierten – Möglichkeiten höchstens ein Echo: „das Echo eines anderen Sprechens oder von etwas anderem als Sprechen“, das „durch sein Verschwinden erst Sprache ermöglichte“. Später spitzt Heller-Roazen Diskussionen jüdischer Mystiker über den Buchstaben Aleph (dem kein Laut, kein Klang mehr zugeordnet ist) und die Offenbarung am Berg Sinai zu: die an dem Berg versammelte Menge der Israeliten hörte, so die letzte Konse-quenz von deren Tora-Interpretationen, vom Text der göttlichen Rede nichts als einen einzigen Schall, das „Ich“, mit dem diese Rede einsetzt, oder vielmehr nur den Anfangsbuchstaben dieses Ich: Aleph, dem Buch Bahir zufolge die „Wurzel der zehn Gebote“. Heller-Roazen folgert: „Die gesamte Offenbarung reduziert sich auf einen einzigen Buchstaben, an dessen Klang sich nie-mand zu erinnern vermag… Als das einzig Greifbare an der göttlichen Rede markiert der stum-me Buchstabe das Vergessen, aus dem jede Sprache hervorgeht. Das Aleph ist der Platzhalter des Vergessens am Anfang jedes Alphabets.“
Aber ist, wenn es um Literatur, also um Wirklichkeit geht, dieses Vergessen „des Anfangs“ nicht schon zu allgemein – also zu viel und zu wenig? Wenn es nicht um den Anfang geht, gar keinen Anfang gibt und die Setzung, mit der ein Autor unhörbar „ich“ sagt, unbedeutend ist, es gibt nur im Nachhinein ein Echo, ein Vergessen, das Surren einer Leere; dies wäre die Grenze, an die die Literatur stößt, an die Sprache und Wahrnehmung durch die Literatur stoßen?
Das ist kein festes Fundament, ganz im Gegenteil; dennoch hat die Kraft von Texten, Geschich-ten, diesseits der Schwelle, mit diesem Wenigen, diesem Fast-Nichts zu tun, hängt vielleicht davon ab, so wie sie von der Energie des Schmerzes (der Angst), des Begehrens (der Lust) und dem verweigerten Vertrauen auf diese großtuenden Wörter abhängt. Was an Vertrauen bleibt, ist auf wenig gegründet; jeder Blick, jeder Satz versucht, sich der Wirklichkeit zu versichern. Ich schaue ins Zimmer und sehe ein paar Gegenstände, im Raum verteilt: Lampe, bist du noch da, fragt Robert Walser (und wiederholt in Andrea Winklers König, Hofnarr und Volk eine Ro-manheldin, die statt der Lampe schon, an der Wand hängend, das Gedicht von der Lampe vor sich hat).
Hier, im Raum verteilt, finde ich die Wörter; sobald die Wörter da sind, finden sich auch die Dinge ein.
Dann kommt etwas dazu, die Erinnerung an ein Gesicht, zum Beispiel, an einen ganz bestimm-ten Moment (gleichgültig, ob man ihn erlebt hat oder nicht oder vielleicht gerade jetzt, in diesem Moment erlebt), an eine Geste oder ein Lächeln, vielleicht ist es nicht eine Erinnerung, sondern zum Beispiel eine Fotografie, aus der heraus (wann ist das Bild aufgenommen worden?) mir ein Blick begegnet, und das Spiel beginnt, ein Spiel von Abständen: ein Muster, ein Raum. Roland Barthes beschreibt in seinem Fotografie-Buch Die helle Kammer ein Schwarzweißfoto, auf dem ein schöner junger Mann zu sehen ist, ein gewisser Lewis Payne, im Sitzen, ziemlich lässig an eine narbige Stahlblechwand gelehnt, die Gelenke in Handschellen. Das Foto ist kurz vor der Hinrichtung des jungen Mannes aufgenommen, Lewis Payne hat 1865 versucht, den amerikani-schen Außenminister zu ermorden. Barthes schreibt: „Das punctum aber ist dies: er wird ster-ben. Ich lese gleichzeitig: das wird sein und das ist gewesen … Was mich besticht, ist die Ent-deckung dieser Gleichzeitigkeit: … ich erschauere (…) vor einer Katastrophe, die bereits statt-gefunden hat. Gleichviel, ob das Subjekt, das sie erfährt, schon tot ist oder nicht, ist jegliche Photographie diese Katastrophe. … Immer wird hier die Zeit zermalmt: dies ist tot und dies wird sterben.“
Die Zeit wird zermalmt – oder zerspalten und gewendet; ich nehme, im Raum der Beschreibung, Schichten von Zeit wahr (Lampe, bist du noch da? Zimmer mit der Lampe, dem Stuhl, Robert Walser, der auf die Lampe schaut oder sich an sie zu erinnern versucht, Zimmer mit dem Ge-dicht an der Wand?); ich nehme einen Blick wahr, und es ist nicht leicht zu sagen, woher dieser Blick kommt (aus einer Zeit, die es nicht mehr gibt, von einem Menschen, den es nicht mehr gibt oder der jedenfalls nicht hier ist?) und ob vielleicht dieser Blick den Raum erst begrenzt und bestimmt. Zwei Aspekte sind wesentlich: jene Zeitstruktur, die für mich eine der Vergegenwär-tigung, die einer gebrochenen und vielfach geschichteten Gegenwart ist, und der (vom Papier her, aus dem Bildraum erwiderte) Blick auf das Einzelne, diese Lampe und ihren Lichtschein oder diesen Menschen aus dem 19. Jahrhundert, den einzelnen Menschen, der für nichts ande-res steht als für sich selbst, den anderen, der sterben wird, so wie ich, und der gestorben ist. Man kann (wenn auch nicht immerzu und ohne es immer zu wissen) jeden so ansehen: auf die-ses Vereinzelt-Sein, dieses Für-Nichts-Stehen, dieses Geheimnis, diese nicht ganz geteilte Ge-genwart hin. Ein Moment der Einsamkeit, der sich dem Sozialen – und damit der Gewalt, auch der Gewalt des Erzählens – entzieht; und zugleich der Moment einer seltsamen, indirekten Be-gegnung: des Respekts vor dem anderen (und sei dieser andere nur eine Romanfigur), einer Form von Liebe, denn auch Liebe gilt nichts Funktionalem und keiner bestimmten Eigenschaft und ist im Wesen asozial. Auch die Liebe erreicht das Geliebte nie ganz, kommt dem anderen, der anderen Gegenwart so nah wie nur möglich und verfängt oder verliert sich doch an der Grenze der Haut, vor der Grenze der Augen in einem Bild- und Spielraum, in dem jeder dem oder der anderen, die er oder sie sieht und berührt, anderer oder andere ist; zwei Gegenwarten, die fast in eins fallen, fast. Zwei Körper, Kästchen aus Fleisch und Knochen.
Die Trauer, das Begehren, die Fiktion gewinnen an dieser Grenze ihre Kraft, in diesem Moment der Einsamkeit und der Nähe. Wenn Jacques Derrida schreibt: „Ich kann unter keinen Umstän-den über den Fremden sprechen, ihn zum Thema machen“, dann deshalb, weil dieser Verzicht auf Beherrschung des anderen, des Fremden als Gegenstand erst seine Gegenwart (von der ei-genen einen Hauch entfernt), die Blicke, die Berührung ermöglicht, den Raum schafft. Die Sprache dieses Verzichts, des Souveränitätsverlusts, angesichts eines Gegenstands, der nicht einfach Gegenstand sein darf, ist für mich die Sprache der Literatur. Dieser Verlust an Souverä-nität ist, denke ich, der Gewinn der Literatur, ist das, was sie von Liebe und Tod sprechen lässt, ohne dass sie wüsste (wissen müsste oder wissen dürfte), was Liebe und Tod sind. Es gibt ei-nen Ort in der Sprache, wo das Erklären aufhört, die Gewalt der Beschreibung – die Souveräni-tät, die Beherrschung des Gegenstandes – ein Ende findet und das Einzelne, Besondere ins Bild tritt. Ein Moment der Vergegenwärtigung, jener Moment, in dem (wie Derrida in Mémoires, Paul de Man folgend, schreibt) ein Name „so intelligibel, so erinnerlich“ wie ein Gesicht wird.
Auf jene Undurchdringlichkeit (wo sozusagen das Wort Fleisch wird) richtet sich das literari-sche Schreiben, in ihr (hinter dem Muster, im Raum der Erzählung, der niemals der ihrer wirkli-chen Gegenwart ist), gewinnen die Personen das, was sie ausmacht, in ihr verlieren sie sich.
Ich lese einen Roman, immer wieder, folge der Romanfigur, die vielleicht einmal ein wirklicher Mensch war und von der ich (weil ich das Ende des Buches kenne oder weil das Buch in einer vergangenen Zeit spielt) weiß, dass sie gestorben ist. Ich weiß, dass sie gestorben ist, und weiß, während ich das Buch lese, dass sie sterben wird, innerhalb oder außerhalb der Fiktion. Ich identifiziere mich mit der Figur und doch werde ich nie ganz sie sein, so wie sie nie ganz ich sein wird.
Ich sage „ich“ und mache mich zu einer literarischen Figur, vielleicht zu einer Romanfigur, die einmal (niemand wird genau wissen wie) wirklich gelebt haben wird und von der ein anderer lesen, mit der er sich vielleicht identifizieren wird. Lampe, bist du noch da?
Dieses Sprechen, dieses Schreiben, dieser Raum, der im Schreiben entsteht, geht aus vom Nichts des Ich-Sagens, dem Aleph (statt einer Person ein unhörbarer Buchstabe), und verliert sich im Nichts eines fremden Namens, einem Geheimnis, das ohne Eigenschaft und jedem das Eigenste ist. Dazwischen, von diesen Grenzen bestimmt, gibt es einen Raum; ohne den Raum gäbe es auch die Grenzen nicht, niemanden, der ich sagt, niemanden, der liest oder gelesen wird.
Das Geheimnis, die Grenze ist in den Figuren, in der Sprache, sie ist im Leser (als Komplizen des Autors), im Körper des Lesers, dieses Kästchens aus Fleisch und Knochen. Es hat mit Liebe (mit Respekt) zu tun und mit dem Tod (dem Schrecken). Es ist da, auch wenn nichts als die Struktur, der Raum, die Abstände da sind.
Was eine Frage des Glaubens sein könnte, lässt sich in Text verwandeln: Struktur, Raum, Ab-stand und eine Magie, die auf nichts beruht. Einige Beispiele können vielleicht erläutern, was ich meine; zunächst ein Satz aus dem Filmessay Sans Soleil von Chris Marker, den ich, wie viele Sätze aus diesem Filmessay, seit Jahren im Kopf habe: „Selbst wenn die Straße leer war,“ heißt es hier, „blieb ich bei roter Ampel stehen: nach japanischem Brauch, um Platz für die Geister der Autowracks zu lassen. Selbst wenn ich überhaupt keinen Brief erwartete, bleib ich vor dem Schalter der postlagernden Sendungen stehen, denn man muss die Geister der zerrissenen Briefe ehren, und vor dem Luftpostschalter stand ich, um die Geister der nicht abgeschickten Briefe zu grüßen. Ich ermaß die unerträgliche Eitelkeit der westlichen Welt, die nicht aufhört, das Sein dem Nichtsein und das Gesagte dem Nichtgesagten zu bevorzugen.“
Glaube ich an die Geister der Autowracks, an die Geister der zerrissenen Briefe? Warum sind mir, wenn ich nicht daran glaube, diese Sätze wichtig? Welcher Glaube anstelle eines Glaubens gibt den Sätzen für mich als Filmzuschauer ihre Überzeugungskraft; und wo, in welchen Ni-schen des Wirklichen, gibt es die Geister von Autowracks in all ihrer Unwirklichkeit? Ich sehe das Bild einer Straßenkreuzung in Japan, sehe, dass ich keine Geister sehe, höre eine Stimme Sätze sagen, die sich in meine Erinnerung graben, als würde ich sie glauben. Ich glaube es, ohne es zu glauben, weil die Bilder und die Sätze zusammenpassen und weil Bilder und Sätze einen Raum offenlassen oder erst öffnen: paradox formuliert, weil sie einen Raum des Unglaubens öffnen, wo die Geister daheim sind, die es nicht gibt, die zerrissenen, die nie geschriebenen Briefe, wo die Dinge und die Menschen, die Lebenden und die Toten sich treffen.
Eine Kurzgeschichte von David Foster Wallace trägt den Titel Incarnations of Burned Children; es ist eine Geschichte, die fast unerträglich zu lesen ist: auf wenigen Seiten wird detailliert be-schrieben, wie sich ein kleines Kind mit kochendem Wasser verbrüht, wie seine Eltern vergeb-lich versuchen, es zu retten, wie das Kind stirbt; am Ende des Textes wechselt die Perspektive, das heißt, die Perspektive, die eines atemlosen, aber distanzierten Erzählers, der die Rollen (the toddler, the Daddy, the Mommy) fast abstrakt zuweist, wechselt nicht, aber der Erzähler verlässt die Wirklichkeit, die Welt der Eltern und ihres Schmerzes, und folgt dem Baby in den Tod: „… the child had learned to leave himself and watch the whole rest unfold from a point overhead, and whatever was lost never thenceforth mattered, and the child´s body expanded and walked about … a thing among things, its self´s soul so much vapor aloft, falling as rain and then ri-sing, the sun up and down like a yoyo.“ Ist das ein Trost? Und wenn ja, weshalb ist dieser Trost nicht verlogen: nur weil er nichts von der Unerträglichkeit, vom Schmerz zurücknimmt, nur weil er nichts Konkretes – außerhalb des Raumes der Erzählung – verspricht, oder noch aus anderen Gründen? Weil am Ende nur ein Bild bleibt, wie aus einem Traum, in dem ein Yoyo sich auf und ab bewegt, schmerzhaft und wunderbar klar, und auf irgendeine Weise, die man besser nicht erklären sollte, alles in dem Yoyo, in dem Bild enthalten ist? Was bleibt vom Versprechen, das keinen konkreten Inhalt hat – aber eingefasst ist in ein wunderbar klares, schmerzhaft klares, schmerzhaftes, wunderbares Bild? Ist das der Inhalt des Versprechens: ein Ding zu werden oder das Bild von einem Ding, ein Zeichen, deutungslos, schmerzlos, bewusstlos oder jedenfalls beinahe bewusstlos? Wie lässt sich Betrug, die Vorspiegelung eines Trosts, von ästhetischer Wahrheit unterscheiden?
„Ästhetische Erfahrungen suggerieren keinen falschen Halt“, schreibt Roger M. Buergel „son-dern lehren, Spannungen und Komplexität auszuhalten. Und sie lehren, die Lust auszuschöpfen, die entsteht, wenn man realisiert, dass dieser bodenlose Grund ästhetischer Erfahrung wider alle Erwartungen trägt."
Noch ein Beispiel aus diesem Reich der Zeichen und der Spannungen, in dem Fall der bildenden Kunst (die ich, wie den Film, was auch immer sie sonst noch alles sein mögen, hier einfach als Teile des literarischen Raums auffasse, den ich bewohne). Zwischen 17. August und 30. De-zember 1957 malte Pablo Picasso 44 Variationen von Velázquez´ Gemälde Las Meninas sowie, an einigen Tagen im September, neun Bilder von Tauben, in Käfigen vor großen Fenstern in Picassos Villa an der Küste von Cannes (die Villa gibt es noch und die Küste). Diese Bilder hängen alle im Picasso-Museum in Barcelona, ich gehe durch die Säle, schaue mir die Bilder an, denke einen Satz: Wie von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag das Licht verrutscht. Daraus Formen machen, denke ich. Einmal habe ich in Madrid das Gemälde von Velázquez gesehen, ich habe etwas darüber gelesen, dennoch habe ich es nicht mehr allzu genau im Kopf, das Un-wichtigste daran sind jedenfalls für mich die wirklichen Menschen, das Königspaar, die Infan-tin, die Hofdamen, die Zwerge, die Vorbilder, das heißt, das Unwichtigste ist, wer diese wirkli-chen Menschen waren (das ist Nichts: ein leeres Kästchen), wichtig ist, wie sie sich verwandeln, was sie werden, gemalt, durch den Maler im Bild, von dem, wie von seinen Figuren, nur ein paar Pinselstriche bleiben werden, ein Farbauftrag. Wichtig ist dieser ganz bestimmte Ort, das Picasso-Museum im Born-Viertel in Barcelona, heute, die Villa in Cannes, 1957, das genaue Datum im August, September, Oktober, November, Dezember. Das Licht verrutscht, gerinnt zu Formen; darin kann man von Bild zu Bild Figuren folgen, sie ihre eigene Form gewinnen und verlieren lassen, Figuren aus der Vergan¬genheit, die einmal Zwerge waren, Hofnarren, Maler, Infantin¬nen oder Hofdamen in weiten Kleidern, Hunde, und die Zeit von Picasso und die von Velázquez spiegeln sich ineinander. Eine schwache Ordnung, von zarten Wiederkünften gehal-ten, zieht ein Netz über mehr als 300 Jahre; das 17. und das 20. Jahrhundert sind in den Zeichen gegenwärtig, der September 1957 mit seinem Sonnenlicht und seinen Farben, dem verrutschen-den Licht, den verrutschenden Farben, die Tauben, die Verschläge, das Fensterbrett, der Bogen des Fensters, das Meer dahinter und eine Landzunge, die sich ins Meer schiebt, und ein ferner Tag in einem Palast in Madrid, diese Tage und Dinge, diese Lebe¬wesen, die nicht mehr da sind und doch zu sehen. Gesichter werden zu Zeichen, Kreuzen, Sternen, ver¬wandeln sich, Zeiten antworten aufeinander, nicht unbedingt die Gegenwart auf die Ver¬gangenheit, auch umge¬kehrt: die Endlosigkeit des Antwortens in einem beschränkten Raum. Wichtig sind die weißen und grünen Flächen, die Nasenhäkchen, Augenkreise, Kleiderdreiecke, Hundefleckchen, Rau¬ten, wichtig ist jene Doppelfigur, die immer abstrakter wird, ein Kasten mit zwei Gesichts¬kreisen, zwei Händen. Dann glaube ich im Spiel der Formen und Zeichen eine plötzliche Unschuld wahrzunehmen, eine Unschuld von Gesten und Blicken (so als hätte man – wer, ich, Picasso, die Hofdamen? – , mit den Worten Kleists, ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis geges-sen).
Literatur ist für mich diese Struktur, dieses Netz von Blicken, dieses Antworten und unschul-dig-deutungslose Zeichensein; das Glück dieses Struktur- und Zeichenseins. Kann es gleichzei-tig um Unschuld und Glück gehen und darum, den Schrecken nicht zu vergessen?
Ich erinnere mich, wie ich das Ende von Imre Kertész´ Roman eines Schicksallosen las und da-bei dachte: Das ist das Ungeheuerlichste, das Entsetzlichste, was ich je gelesen habe. Ich dachte es nicht nur mit Schaudern, sondern auch mit einem Glücksgefühl; ich bin mir sicher, Kertész hat diese Seiten auch mit einem Glücksgefühl geschrieben.
So pervers es scheint und vielleicht gerade weil es pervers scheint, dieses Glücksgefühl hat et-was mit Wahrheit zu tun und mit der Unbestimmbarkeit dieser Wahrheit. Ich bin beim gleichen Thema wie in den vorherigen Beispielen, aber ich rede nun auch von Geschichte und weshalb sie in der Literatur richtig aufgehoben ist – eben weil sie darin niemals ganz aufgehoben sein kann, sondern immer eine Wunde offen bleibt. Mit perverser Lust, mit einer uneingestandenen Hoffnung schaut man auf diese Wunde, berührt sie, immer wieder. Und zwar nicht im allgemei-nen, sondern an ganz konkreten Punkten: einzelne Menschen, einzelne Geschichten (die von der „großen“ Geschichte getroffen und zermahlen werden), bestimmte Räume. Erinnerungen als wäre das Erinnerte noch da.
In der Geschichte des Schicksallosen, der aus Auschwitz und Buchenwald zurückkommt und merkt, dass es kein Leben und kein Land gibt, in das er zurückkommen kann; dass er in Auschwitz und Buchenwald daheim ist, Heimweh nach Auschwitz, nach Buchenwald hat, er-zählt Kertész keine Erfahrung, sondern macht die Unmöglichkeit der Erfahrung, das Ende indi-vidueller Erfahrung erfahrbar.
Die Bilder, die Informationen verbrauchen sich, selbst die schrecklichsten Bilder, die unerträg-lichsten Informationen; wenn nicht etwas anderes dazukommt, ein Raum; wenn nicht die Bilder oder etwas zwischen den Bildern und Wörtern einen Raum öffnen, fürs Denken, für die Ver-zweiflung und sogar für die Schönheit; für die Geister, die man beschwören muss, auch wenn man weiß, dass sie nicht ins Leben zurückzuholen sind. Eine Notwendigkeit, eine Unmöglich-keit.
Weil er das weiß und darauf insistiert, behält ein Film wie Claude Lanz¬manns Shoah seine Kraft: weil er nicht auf die Darstellbarkeit vertraut, sondern von den Grenzen des Darstellbaren handelt, sich diesen Grenzen nähert, sie sichtbar, körperlich spürbar macht. Er zeigt die Qual, die Notwendigkeit des Erinnerns, wie sich im Sprechen Erinnerung und damit Wirklichkeit formt. Er zeigt die Orte mit ihren fast magischen Schreckensnamen; sie werden sichtbar, eben weil nicht zu sehen ist, was hier getan wurde, sondern das sommerliche Gras, die Wege, die Bahngeleise, die nahen Bauernhöfe, während Stimmen erzählen, erinnern, ein Netz des Ge-dächtnisses knüpfen. Zwischen Bildern und Orten spannt sich die Zeit; die Toten sind in den Bildern, in denen sie nicht zu sehen sind, in den Sätzen, sie sind in der Kluft zwischen den Bil-dern und den Sätzen, dem Sichtbaren und dem Ungeheuerlichen der Geschichte. Statt zu tun, als stünde einem einfach Information übers Vergangene zur Verfügung, macht der Film Shoah mehr zugänglich als ein beliebiges Wissen; er öffnet zugleich den Abgrund unter dem Wissen; zeigt und sagt mehr, als bloße Bilder zeigen, als bloße Sätze sagen können. Die Kluft zwischen Sätzen und Bildern, Gegenwart und Vergangenheit bleibt offen, eine Leere, ein Nichts; das Wissen, die Wahrheit ist eine fragile, notwendige Konstruktion über Abgründen; ohne die Lee-re, das Nichts wäre sie weniger wahr.
Nicht obwohl, sondern eben weil der Film mit künstlerischem bzw. (in meinem Sinn) „literari-schem“ Bewusstsein, mit Sinn für Nicht-Darstellbares, mit Sinn für einen Raum, eine Stille hin-ter den Sätzen und Bildern gemacht ist, hat er mehr an geschichtlicher Wahrheit als jede aufs Dokumentarische, die Darstellbarkeit vertrauende Auseinandersetzung mit der Shoah: die Wahrheit beruht auf der Distanz; darauf, dass das Zentrum leer ist, es keinen Punkt der Auflö-sung, des Gelingens – der Bewältigung, Sinngebung – gibt. Durch diese Distanz, diese Leere entsteht eine seltsame Schönheit, die so skandalös wie notwendig ist. Ein Glück des Sehens und Wissens, als ein seltsamer Trost, der nichts vom Schmerz zurücknimmt. Im Gegenteil, auch hier antwortet die Vergangenheit auf die Gegenwart, schneidet ihren Schmerz in sie ein.
Dieses Glück, diese Schönheit rechtfertigen kein Verbrechen und kein Leid, sie entfalten sich in einer anderen Form von Nachträglichkeit, machen eher einen Moment des Widerstands aus, des nachträglichen, unmöglichen Widerstands, des unmöglichen und notwendigen nachträglichen Widerstands, der Unversöhnlichkeit.
Diese Paradoxien bestimmten für mich ganz allgemein das Verhältnis von Literatur zur Ge-schichte. Manchmal besteht der Widerstand einfach darin, einen Namen zu sagen, sich an einen Namen zu erinnern, mehr als der Name ist nicht mehr da, aber der Widerstand besteht darin, sich an das Nicht-mehr-da-Sein zu erinnern, die Leere zu sehen, die zurückgeblieben ist. So wie für Georges Perec, dessen Vater im Weltkrieg und dessen Mutter im Vernichtungs¬lager starb, in W oder die Kindheitserinnerung seine Kindheitserinnerung die Abwesenheit von Erinnerungen ist: „Ich weiß, dass ich nichts sage … ich weiß, dass das, was ich sage leer ist, farblos, ein für allemal das Zeichen für eine Vernichtung, die ein für allemal ist“: eine Leere, über die er in dem Roman eine passend-nichtpassende fiktive Dystopie legt: nicht um sie zu verdecken, sondern damit dieses Weiß, diese Leere sich umso schärfer abzeichnet.
Eine Wunde bleibt offen, eine Lücke, etwas wartet auf eine Antwort, man hat keine Antwort, nur jene Magie, die auf nichts beruht, und dank der Zeiten aufeinander antworten können, ei-nander lesen. Eine Zukunft kann ohne Besserwisserei eine Vergangenheit lesen, eine Vergan-genheit die Gegenwart, als andere Gegenwart, die Zeiten antworten als Gegenwarten aufeinan-der. Ohne Endgültigkeit, ohne Hierarchie. In jeder gibt es einen Moment von Nacktheit und Unschuld, einen unverständlichen Moment, dem alle Zärtlichkeit gelten soll. Wo die Macht, die Gemeinheit sich auflösen
„Ich schreibe“, heißt es bei Perec weiter, „weil wir zusammen gelebt haben, weil ich einer unter ihnen gewesen bin, ein Schatten inmitten ihrer Schatten, ein Körper nahe bei ihren Körpern; ich schreibe, weil sie in mir ihr unauslöschliches Zeichen hinterlassen haben und weil das Schreiben die Spur dieses Zeichens ist: die Erinnerung an sie ist für das Geschriebene tot; das Geschriebe-ne, das Schreiben, ist die Erinnerung an ihren Tod und die Bejahung meines Lebens.“
Alles, wovon bisher die Rede war, hat zu tun mit dem Verhältnis der Literatur zum Tod: einem seltsam gespaltenen Verhältnis, es kann sowohl scheinen, sie würde den Tod aufhalten wollen, ihn nicht akzeptieren, ihm etwas entreißen, Vergangenes wieder zum Leben erwecken, als auch, sie gehörte selbst eher dem Bereich des Todes, des Toten an als dem des Lebendigen und des Lebens.
Der Tod, die Erinnerung, die Bejahung des Lebens nehmen in diesem Raum ihre Positionen ein, bestimmen ihn, tauschen immer wieder die Plätze.
„Ich bin die Gedenkstätte des ...“ steht auf den ältesten griechischen Grabinschriften. Daniel Heller-Roazen stellt eine Verbindung von diesen rätselhaften Grabstelen zur Literatur her: das Grab wie der Text sind ein Objekt, das ich sagt. Mit immer ausgeklügelteren Methoden versucht dieses Objekt, der Text, der wie ein Grab ist, vergessen zu lassen, dass es ein Objekt ist, an der Stelle von etwas anderem steht, von etwas, das gestorben ist oder gestorben sein wird.
Was ist dieses Etwas, ein Niemand, ein Nichts?
Ich zitiere, ohne viel dazu zu sagen, aus den letzten Seiten von Peter Waterhouse´ (Krieg und Welt), wo der Erzähler den Krebstod seiner jungen Frau (oder die Erinnerung an den Krebstod seiner Frau oder das Erzählen von diesem Tod) beschreibt: die Tote „sei da, so wie alle Gestor-benen da seien… die Toten seien wie Kinder, fast so wehrlos, fast so jung, fast so neu.“ Er er-zählt seinen, ihren schlafenden Kindern „wie ich zum spätnächtlichen Zeitpunkt in der Todes-nacht aufgeweckt wurde von niemandem. Niemand und nichts hatte mich aufgeweckt, um zu sagen: Jetzt sterbe ich; jetzt bin ich gestorben. Die mich Aufweckende, das mich Aufweckende, der mich Aufweckende war nicht im Zimmer, ging nicht, rief nicht, schüttelte nicht wach, flüs-terte nicht ins Ohr, sondern da war nur das um zu – um mir zu sagen: jetzt; und jetzt. (…) Ich erhob mich, aber nicht ich erhob mich, denn da war nichts (…) Ich war nicht verständigt, zu Hilfe gerufen worden. Da war nur: jetzt bin ich tot, wie es niemand sagen kann. Ich ging zum Bett der Kranken, fast grundlos, ungerufen oder nirgendwohin gerufen. Ich ging nirgendwohin und saß nirgendwo am Bett der Kranken. Es gab den themenlosen Himmel, ich sah und hörte ihn nicht, ich war in Aufregung, mein Herz schlug schneller. Die Tote war wie ein Lebewesen. Die Tote war jetzt nicht tot, sondern sie war tot, um zu … Sie war gestorben, um zu … Das um zu war ein Zwischenraum. Sie konnte gehen, um zu … Sie konnte fortgehen, um zu … Ich hör-te in dem um zu einen unbekannten Wert und einen Zwischenwert. Die Kranke war gestorben, um zu … um einen unbekannten Wert … um einen unbekannten Wert zu haben.“
(„Ist die Poesie die Welt?“ fragt sich dieser Erzähler an einer Stelle des Buches und antwortet: „Ja.“)
Literatur ist Struktur und Beziehung: das Erscheinen des Wirklichen braucht einen Raum, nicht unbedingt einen Sinn. Das Zentrum dieser Struktur ist (oder wäre, wenn es ein Zentrum gäbe) etwas, das „nicht in Frage steht“: das Nichts eines Inneren, um das sich das Geheimnis (Poesie, die Welt) formt.
Dann, in all diesen Beziehungen, der Verteilung der Gegenstände, der Wörter im Raum, den Kräften, die zwischen ihnen wirken, ihren Bewegungen entscheidet sich, ob das Geheimnis – im Film, in der Kunst, in der Literatur – auf Betrug beruht, einer Vortäuschung, oder ob da mehr ist: eine entscheidende Unruhe, etwas Drängendes und ein Versprechen, das in den Sätzen ist; das Versprechen Sprache, das Glück und die Ungeheuerlichkeit, ein Zeichen zu sein.
Ich sehe eine japanische Straßenkreuzung und die Seelen der toten Autos, die ich nicht sehe, ich sehe von Gras überwucherte Schienenstränge in Polen und einen Berg von Koffern mit Na-mensschildern in altmodischer Schrift. Das eine – fast harmlose – Bild und das andere Bild, in dem aller Schrecken enthalten ist, sagen beide nicht nur etwas über unser Verhältnis zu den Dingen aus, sondern bringen auch eine drängende Sehnsucht zur Sprache: halten sie in der Sprache, ohne falsche Behauptung, ohne falsche Lüge, so hält die Literatur etwas (das Leben, Nicht-Leben) in der Sprache. Etwas, das in sozialen Zuschreibungen, wissenschaftlichen Defi-nitionen, in dem, was für das normale Leben gilt, nicht zu fassen ist, das nicht groß ist, nicht gut und nicht böse, keine Macht und keine Allmacht hat, und das in der Sprache, die sich selbst spricht, erscheint; wenn auch nur oder fast nur als Leere. Das Objekt sagt Ich, man hört ein Al-eph, einen klanglosen Buchstaben. Wer soll das hören und wozu?
Um zu –
Ich habe nicht ganz richtig zitiert:
– Was Sie wollen, hat Buñuel eigentlich auf die Frage nach dem Inhalt des Kästchens geantwor-tet. Aber man kann sich nicht nach freiem Belieben aussuchen, was man will.
Es ist gut, dass das Kästchen mit Was-Sie-wollen gefüllt, also leer – oder wie das Kästchen mit Schrödingers tot-lebendiger Katze bei jeder fast beliebigen Füllung immer gleichzeitig auch leer – ist. Das Geheimnis gibt keinen Halt, es ist gut (oder sagen wir, es ist gar nicht so schlecht), dass der Wunsch nach Verbindlichkeit, Gemeinschaft, Fülle des Sinns, einem festen Fundament im Unbegreiflichen (wie ihn Rilke an einer Stelle in Malte Laurids Brigge fürs Theater, also alle Kunst, wie fürs sogenannte Wirkliche formuliert) ins Leere geht und niemand „nach der Wand einer gemeinsamen Not“ schreit, „hinter der das Unbegreifliche Zeit hat, sich zu spannen und anzusammeln.“ Weder nach der Gemeinsamkeit noch nach der Not noch nach dieser göttlichen oder monströsen Fülle, die dem Unbegreiflichen nur die Unbegreiflichkeit nimmt, dieses Nichts oder Fast-Nichts hinter der Grenze, von der her ein leises, inständiges Surren ertönt. Die zarte, nichtige Würde der Gegenstände und Menschen, der Geister und der Zeichen hängt davon ab.
Dieser Essay wurde für eine Ringvorlesung an der Universität Frankfurt zum Thema Literatur und Religion geschrieben und dort am 4.6. 2014 vorgetragen, in schriftlicher Form ist er un-veröffentlicht.
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