Freitag, 12. März 2021
Exerzitien
Es gibt eine Anspannung, und es gibt ein Loslassen.
Sehr wichtig ist der richtige Moment.
Beinahe das Allerwichtigste.
Die Entspannung dreier Fingerkuppen.
Wie ist die Atmung währenddessen, bin ich gefragt worden. Nun, das ist schwer zu beobachten. Ich darf nicht aus der Situation heraustreten. Ich würde sagen: flach. Brustatmung. Denn der Körper ist aufgerichtet, so aufrecht wie möglich. Rücken gerade, Kopf erhoben, der linke Arm ausgestreckt, der rechte angewinkelt. Konzentrierter Blick. Das ist wichtig. Das wichtigste.
Es kann sein, dass ich etwas neben mir fühle. Oder hinter mir. Ein Rascheln, vielleicht eine Bewegung, die Ahnung einer dunklen Gestalt im Wald. Wenn ich Zeit habe, sehe ich hin. Um die Unruhe aufzulösen. Ach so, dieser Baumstamm. Dieser Vogel. Dieser Wurzelstock. Dieses Fähnchen im Wind. Das Murmeln des abfließenden Tauwassers. Um wieder zurückzukehren zu meiner Szene.
Ich stehe im Wald vor einem Tier.
Ein Reh, seitwärts gewandt, mit dem Blick zu mir.
Das Licht des Tages trifft dieses Tier. Und trifft mich.
Zuweilen blendet es mich. Dann trete ich einen Schritt zur Seite. Manchmal steht das Tier im Schatten, ich kann nur die Umrisse ahnen.
Heute stand ein Bär zwischen einem Strauch und einem Wurzelstock. Jetzt sind die Zweige blätterlos, die Sicht weit. Im Sommer ist die Sichtachse viel schmäler.
Der Bär steht seitlich auf allen vieren, den Kopf in meine Richtung, mit einem Fisch im Maul.
Das ist eine schwierige Position, denn seine Brust verschwindet unter dem herabgeneigten Kopf, ich muss ihn in die Seite treffen. Eine Schmalseite hinter der Schulter.
Entfernung: 40 Meter.
Ich ziele einen Daumenbreit über den Strauch rechts seiner Schnauze, lasse den Bogen mit dem aufgelegten Pfeil langsam sinken und löse im richtigen Moment die Finger. Der Pfeil zischt ab, beschreibt einen flachen Bogen und fährt zwei Handbreit links des Bären in den gefrorenen Boden. Ich muss rechts über den Strauch zielen und etwas früher loslassen. Der zweite Pfeil streicht über den Bären, trifft hinter ihm auf die Eisfläche, gleitet ab und wird wieder hochgelenkt auf die Zielscheibe. Tock. Den Pfeil siehst du nicht immer, aber den Klang hörst du. Du hörst einen Treffer, einen Fehlschuss in den Boden, in den Baum. Die Zielscheibe hinter dem Tier ist nicht mein Ziel. Der dritte Pfeil trifft die Flanke - fupp. Der vierte die Vorderflanke. Ich schreie begeistert und stürme hin: Volltreffer! Mein sechster heute. Ich zähle nur die Volltreffer. Und jetzt passiert mir ein Fehler.
Ich denke: Gut drauf heute. Das kann ein Rekordergebnis werden. Dieser schwierige Treffer, später einige leichte Ziele. Ich klettere über den halb gefrorenen, halb moosweichen Waldboden über Felsen und durch Unterholz bis zum nächsten Zielpunkt. Hinter einer Kuppe, 45 Meter abwärts zu einer liegenden Gämse, den Rücken mir zugewandt. Ich weiß noch vom letzten Mal: flach halten! Ich kann das treffen. Ruhig bleiben. Aber es wird nichts daraus. Ein Pfeil links daneben, einer rechts, einer darüber. Ein Treffer am Tier, aber fünf Zentimeter unterhalb des Ziels in der Mitte des Rückens. Ein Treffer, aber kein Volltreffer. Nichts Zählbares.
Der Fehler war, weiterzuzählen. Ein Kalkül zu haben. Passiert mir immer wieder. Sobald du weiterdenkst, verlässt du die Situation. Bist nicht mehr da. Der Geist geht weiter, ist beim Plan, bei den Wünschen und Träumen, lässt dich leer zurück. Ohne Geist triffst du nicht. Du bist keine Maschine. Deshalb liebe ich diesen Sport. Er zwingt mich, ganz da zu sein. Keine Pläne, keine Absichten. Schluss mit der Beiläufigkeit. Jetzt und hier. Ganz.
Meine Freundin würde lieber auf Scheiben schließen, nicht auf Gummitiere. Ich verstehe das. Ein Tier ist ein Tier, auch wenn es kein Lebewesen ist. Und Scheiben sind objektiver. Du siehst genau deine Fehler und kannst korrigieren. Die Meister trainieren so. Aber ich liebe den Wald. Das Dickicht. Die schmalen Pfade. Über Stock und Stein. Ich will hier bestehen. Im Halbdunkel. Von Insekten umschwärmt, rinnenden Schweiß auf der Stirn, ein Krabbeln auf den Waden. Der große Parcours führt durch einen Sumpf. Dort ist in diesem frühlingswarmen Februar der Schnee geschwunden, aber das Wasser noch gefroren. Im hellen Unterholz sehe ich den Schakal gut und treffe zweimal in die Seite. Wenn ich der Hyäne vor der Schnauze den Pfeil aus dem Gestrüpp ziehen muss, ist es befremdlich. In den ersten Jahren habe ich mich beim Hirschen entschuldigt, wenn ich den Pfeil aus seiner Gummiseite gezogen habe. Um den Panther mit den gelben Augen habe ich immer einen großen Bogen gemacht. Tiere, die ich mag, habe ich immer am besten getroffen. Den Tiger im hohen Gras. Den Bären, vor dem Teich aufgerichtet. Die halbmeterlange Hornisse nie. Und die drei hängenden Fledermäuse auch nicht. Das zeigt, dass es nicht um Aggression geht. Nein, der Schütze baut eine Beziehung auf zu seinem Ziel. Ich muss eine Brücke bauen durch die Luft, zwischen Bäumen durch, im Gelände, von oben, von unten, quer über eine Hügelkuppe. Mit der Flugbahn eine Beziehung aufbauen ist ein geistiger Vorgang. Er braucht volle Konzentration und weitestmögliche Körperbeherrschung. Kein Wackeln, kein Zucken, kein Lidschlag. Keine Ungeduld, keine Eile. Kein Frohlocken über mögliche spätere Beute. Jedes Ziel einzeln anvisieren, wie es ist.

Im letzten Jahr habe ich entdeckt, dass es Situationen sind. Eine Waldnische, eine Wegkreuzung, ein aufgebäumter Bär am anderen Bachufer, ein aufwärts kletternder Puma, der sich umblickt. Ein Uhu auf einem Baumstrunk. Der Uhu war nach vorn gerichtet, ein schönes Ziel, vom Waldweg aus gesehen in den Wald hinauf. Viele Treffer. Doch einmal wurde der Uhu gedreht, er sah nach links. Gleiche Position, gleiche Größe, gleicher Umfang, doch keine Treffer mehr. Irgendwann kam ich darauf, dass ich unwillkürlich nach links ziele, als würde der Vogel gleich wegfliegen. Es sind keine Bilder, es sind Szenen voll innerer Bewegung. Schauplätze, Anbahnungen. Beim Pfeilesuchen kommt man zuweilen vom Weg ab und dringt von hinten in eine andere Szene. Wie einen Raum durch die Hintertür betreten. Der Wald ein Haus, zwischen den Zimmern Gänge und Treppen. Im Winter sind die Vorhänge weggezogen, da rücken Nischen zu einem Saal zusammen.
Apropos Pfeilesuchen: Das ist wie das Zusammenräumen nach dem Spielen, das Geschirrwaschen nach dem Mahl. Zuweilen streift ein Pfeil, seine Bahn wird abgelenkt mit voller Geschwindigkeit, womöglich nach oben. Zuerst suchen wir an den zugängigen Stellen. In der Richtung der Flugbahn. Aber es gibt kein Gesetz, dass der Pfeil an zugänglichen Orten landen muss. Die Pfeilfedern haben auffällige Farben - aber im Wald kommen alle Farben vor. Ich lege Bogen und Köcher ab, damit ich die Farben nicht im Gesichtsfeld habe. Ich gehe zum Abschussplatz zurück, besehe die Flugbahn und merke mir den vermuteten Aufprallbereich. Ich durchkreuze den Bereich nach Planquadraten. Du musst jeden Punkt von allen Seiten besehen, auf Farben achten. Es ist ähnlich wie das Zielen: Versuche, den Pfeil, die Pfeilfeder in das Gelände hineinzusehen. Flugbahnen werden unberechenbar, wenn der Pfeil katapultiert wird. Manchmal steckt er hoch oben in einem Baumstamm. Manchmal bis zu den Noppen im Laub. Manchmal im Schlamm. Finden war nie meine Stärke. Ich setze mir ein Zeitlimit. Man muss auch loslassen können.

Man spricht von intuitivem Schießen. Ohne Meterangaben, ohne Zielvorrichtung, ohne Stativ. Du musst die Intuition aufbauen. Du sammelst Erfahrung. Wäre der Pfeil ein Laserpointer, musst du den gedachten Zielpunkt über oder unter das Ziel lenken, je nach der Entfernung. Der Pfeil fliegt aber einen Bogen, keine Gerade. In letzter Zeit habe ich mir angewöhnt, mir ein Dreieck einzuprägen: ein bisschen rechts vom Ziel (ich ziehe den Pfeil mit der rechten Hand), ein gutes Stück nach oben. Wenn der Schuss sitzt, müsste man mehrere Schüsse ganz gleich folgen lassen können. Ich habe tatsächlich zuweilen mehrere Treffer im Zentimeterabstand. Einmal habe ich sogar den eigenen Pfeil getroffen und gespalten, ich schwöre! Und ich gebe zu: Es ist ein Indianersport im Natureinklang, besonders in Zeiten der Pandemie, sowieso triffst du nie einen Menschen! Oder ein Kampf um Gerechtigkeit, wie bei Robin Hood. Gerechtigkeit für Situationen und Blicke.

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